Knochenmüll aus der Ärzteschule

Dass Archäologen Knochen finden, gehört zu ihrem Geschäft. Dass sie aber vor einer Grube voller abgesägter Körperteile stehen, kommt nicht alle Tage vor. Was bei den Bauarbeiten für den neuen Campus der University of Worcester ans Tageslicht kam, waren allerdings nicht Hinweise auf finstere Verbrechen, sondern Überbleibsel einer Sternstunde der Medizin: „Dies ist ein Zeugnis aus den Kindertagen der Chirurgie”, erklärt Stadtarchäologe Simon Sworn. Denn wo bald die Studenten in neue Wohnheime ziehen sollen, stand bislang die Worcester Royal Infirmary, das alte Krankenhaus der Stadt. Und hier, knapp 50 Kilometer südwestlich von Birmingham, wurde im Jahr 1832 die British Medical Association gegründet. Im gleichen Jahr trat der Anatomy Act in Kraft, der es britischen Ärzten erlaubte, Tote ohne Angehörige für die Forschung zu verwenden. Zuvor mussten sich die Forscher mit den Leichen Krimineller als Lehrmaterial begnügen – zu wenige für eine sinnvolle Forschung. „Wir haben von der Syphilis angegriffene Knochen gefunden, die für eine nähere Untersuchung aufgesägt waren”, berichtet Sworn. Aber auch Knochen von Schweinen, Pferden und Rindern lagen zwischen den menschlichen Gebeinen. „An einigen davon haben wir gleich mehrere Sägeansätze gefunden – als ob Studenten hier eifrig Amputationen geübt hätten.”

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 23/2009.

Todgeweihter Lincoln

Am Karfreitag des Jahres 1865 schoss ein Attentäter den US-Präsidenten Abraham Lincoln nieder. Tötete der Mörder einen ohnehin Todgeweihten? Das will der US-Kardiologe John Sotos herausgefunden haben. Lincoln habe an „multipler endokriner Neoplasie” (MEN) des Typs 2B gelitten – einer seltenen Erbkrankheit, die Schilddrüsenkrebs hervorruft. Der Präsident, so die späte Ferndiagnose des Mediziners, hätte wahrscheinlich das Osterfest des Folgejahres nicht mehr erlebt. Seine Diagnose stützt Sotos auf Fotos uns Zeitzeugenberichte. Ein Hinweis auf MEN2B sei zum Beispiel die außergewöhnliche Körpergröße Lincolns, der mit 1,93 Meter der längste US-Präsident der Geschichte war. Auch Beulen auf Lincolns Lippen, zu erkennen auf einem Gesichtsabdruck aus Gips, sprächen für die Erbkrankheit: Sotos deutet sie als charakteristische Nervenverwachsungen, sogenannte Neurone. Schon den Zeitzeugen war der Verfall des Präsidenten aufgefallen. Lincoln selbst habe gemutmaßt, er werde „das Ende des Bürgerkrieges nicht erleben.” Um seine Theorie zu untermauern will Sotos nun eine Lincoln-Reliquie aus einem Militärmuseum in Philadelphia untersuchen: jenen Kissenbezug, an dem nach dem Attentat Blut und Gehirnmasse des Präsidenten kleben blieben, die sich vielleicht für eine DNA-Analyse eignen.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 18/2009.

Kontroverse um Kinderknochen

Vor 5500 Jahren starb Charlie im britischen Avebury. Eine Gruppe radikaler Druiden betrachtet das zum Zeitpunkt seines Todes dreijährige Mädchen als ihren Stammesvorfahren – und will nun Charlies Knochen wiederhaben, die im Alexander Keiller Museum von Avebury ein Ausstellungs-Highlight sind. „Unsere Forderungen basieren auf ethischen Grundsätzen und der untrennbaren Verbindung unserer Vorfahren mit der Landschaft”, erklärt Paul Davies vom Council of British Druid Orders. Das Museum möchte sich nicht von seinem Publikumsmagneten Charlie trennen. Jetzt drohen die Druiden, den Fall vor den Obersten Gerichtshof zu bringen. Hätten sie dort Erfolg, so fürchten Archäologen, wäre kein Skelett in britischen Museen mehr sicher. In einer gemeinsamen Erklärung der Denkmalschutzorganisationen English Heritage und National Trust heißt es: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Mitglieder des Council of British Druid Orders mit den Überresten enger verwandt sind als die Mehrheit der derzeitigen Bevölkerung Westeuropas.”

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 06/2009.

Finanzgenie statt Femme fatale

Sie gilt als Luder der Renaissance und als so mordlustig, dass Wildwest-Legende Buffalo Bill sogar sein Gewehr nach ihr benannte. Doch Lucrezia Borgia (1480 bis 1519) war den Erkenntnissen der Historikerin Diane Yvonne Ghirardo von der University of Southern California zufolge vor allem eins: „eine äußerst erfolgreiche kapitalistische Unternehmerin”. Die italienische Fürstin spanischer Abstammung, die Zeitgenossen als wunderschön, blond und mit sonnigem Gemüt gesegnet beschreiben, erwarb in großem Maßstab scheinbar wertloses Sumpfland, ließ es mit Hilfe von Entwässerungsgräben und Kanälen trockenlegen und nutzte es dann anschließend als Weideland oder für den Anbau von Getreide, Bohnen, Oliven, Flachs und Wein. Innerhalb von sechs Jahren kaufte sie in Norditalien zwischen 12000 und 20000 Hektar Land auf – kein Mann zu ihrer Zeit spekulierte in diesem Umfang mit Grundstücken. Obwohl Lucrezias Bilanzen seit langem in Archiven offen zur Verfügung stehen, war Historikern ihr offenkundiges Spekulationsgeschick bislang entgangen. Weil sie eine Frau war, nahmen Renaissance-Forscher in den Geschäftsunterlagen bislang nur die Zahlungen für Kleidung, Schmuck oder Kunstwerke zur Kenntnis. Für all das interessierte sich Lucrezia offenbar wenig. Statdessen fand Forscherin Ghirardo in den Büchern immer wieder große Spenden an die Kirche.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 04/2009.

Kneipe im Wohnzimmer

Dass die Alten Griechen ihre Abende bevorzugt zechend in der Taverne verbrachten, wollen uns zahlreiche Komödien und Anekdoten weismachen – nur fanden Archäologen bislang nie Überreste dieser angeblich so verbreiteten Eckkneipen. Das brachte Clare Kelly Blazeby von der University of Leeds auf die Idee, dass ihre Kollegen vielleicht nach den falschen Spuren gesucht haben könnten: Die Tavernen des klassischen Griechenland, so Blazebys Hypothese, waren keine eigens zu diesem Zweck genutzten Gebäude. Statt dessen funktionierten die Griechen ihre Wohnräume zu Kneipen um. Als Beleg dafür sieht Blazeby die Unmengen Geschirr, die in etlichen Privathäusern gefunden wurden – viel mehr, als selbst eine kinderreiche Großfamilie gebraucht hätte. Allein aus den Ruinen eines Wohnhauses in Halieis etwa holten die Archäologen 209 Trinkbecher und 148 Krüge. In den Abfallgruben solcher Häuser fanden Ausgräber meist auch außergewöhnlich viele Tierknochen – die Forscher schließen daraus, dass bei den Gelagen auch Snacks ausgegeben wurden.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 04/2009.

Morbider Totenkult

Das Volk der Nazca, das zwischen 200 v. Chr. und 600 n. Chr. die Küstenwüste im heutigen Peru bewohnte, pflegte einen Brauch, über den Archäologen lange rätselten: Wie Darstellungen auf Gefäßen zeigen, durchlöcherten die Indianer Totenschädel, fädelten sie auf Schnüre und trugen sie als Trophäen bei sich – nur wessen Schädel? Kelly Knudson von der Arizona State University in Tempe hat die Antwort im Zahnschmelz gefunden: Die darin enthaltenen Isotopen-Signatur von Strontium, Kohlenstoff und Sauerstoff hängt vom Wasser und der Nahrung ab, die der Mensch zu sich genommen hat und unterscheidet sich von Ort zu Ort. Knudsen verglich entsprechende Proben von Trophäenschädeln und von intakten Nazca-Mumien. Das Ergebnis: Sowohl die Toten, die als Trophäen geendet waren, als auch die Trophäenträger hatten dasselbe Wasser und Gemüse zu sich genommen. Sie waren also offenbar keine Feinde aus anderen Dörfern, sondern eher Verwandte. Offen bleibt allerdings die Frage, ob die Nazca Mitglieder ihrer eigenen Familie rituell opferten oder die Köpfe ihrer auf natürliche Weise verstorbenen Verwandten mit sich herumtrugen – als Ritual eines morbiden Totenkultes.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 03/2009.

Der dritte Buddha

Im März 2001 sprengten die Taliban im Tal von Bamiyan zwei Buddhafiguren, die mit einer Höhe von 34,5 und 55 Metern als die größten der Welt galten. Jetzt hat ein französisch-afghanisches Team in unmittelbarer Nähe die Reste einer dritten Riesenstatue entdeckt, die den Erleuchteten liegend zeigte. Als erstes fanden die Archäologen ein Bein, dann einen Daumen, einen Zeigefinger, schließlich einen Arm. Ursprünglich, so glauben sie, hatte die Figur eine Länge von 19 Metern. Sie ist längst zerstört – allerdings nicht von den Taliban: Wie der afghanische Archäologe Anwar Khan Fayez vermutet, haben vielmehr arabische Eroberer das Antlitz der Statue bereits im neunten Jahrhundert geschändet. Die Skulptur war für die Ausgräber ein Zufallsfund. Eigentlich suchten sie nach einem wahrhaft gigantischen Buddha, der nach Überlieferung des chinesischen Mönches Xuanzang aus dem Jahr 632 um die 300 Meter gross sein soll. Die Archäologen, so das Informations- und Kulturamt von Bamiyan, hegen die Hoffnung weiterhin, diesen Koloß in der Nähe seiner kleineren Brüder noch aufzuspüren.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 47/2008.

Auf Gefechtsstation erstickt

Warum mussten die acht Mann an Bord der „CSS H. L. Hunley“ sterben? In der Nacht des 17. Februar 1864 hatte das Schiff als erstes U-Boot der Weltgeschichte ein feindliches Schiff versenkt. Danach ging das per Handkurbel angetriebene Boot selbst auf Grund. Erst jetzt, mehr als 140 Jahre nach der Havarie, bringen neue Untersuchungen Licht in die letzten dunklen Momente an Bord: Wahrscheinlich erstickten die Männer am Grund der Bucht von Charleston, so das Fazit der South Carolina Hunley Commission. Dafür sprechen zwei Fakten: Bei der Bergung fand man die Leichen an den Gefechtsstationen – niemand hatte versucht, seinen Platz zu verlassen. Zudem waren die Pumpen, die den Mannschaftsraum trocken halten sollten, nicht eingeschaltet. Diese Umstände sprechen gegen die populäre These, die „Hunley“ sei beim Angriff auf den Feind schwer beschädigt und damit manövrierunfähig geworden. Denn dann hätte die Mannschaft versucht, das sinkende Boot zu verlassen, oder zumindest die Pumpen angestellt. Statt dessen warteten die Männer in dem technisch noch nicht ganz ausgereiften Boot vermutlich einfach nur auf die Flut, die sie ans Ufer bringen sollte. In den zwei Stunden bis zum Auflaufen des Wassers jedoch muss die Crew das Bewusstsein in dem engen Mannschaftsraum verloren haben.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 45/2008.

Friedenspfeife für Designerdroge

In den Vereinigten Staaten gibt es neuerdings eine bizarre Verbindung zwischen der Plünderung archäologischer Städten und dem Konsum der Designerdroge Meth. In ländlichen Gegenden, wo viele Drogenkonsumenten leben, treten auch besonders viele Fälle von Raubgräberei auf. Meth ist teuer – und die Suche etwa nach Friedenspfeifen, Pfeilspitzen und Schmuck in früheren Indianersiedlungen ist eine vergleichsweise ungefährliche Methode, schnell zu Geld zu kommen. Außerdem versetzt Meth seine Konsumenten in eine Art Zwangszustand: ideal, um lange und konzentriert einer monotonen Arbeit nachzugehen – wie dem Wühlen nach archäologischen Schätzen. Zudem sind die Chancen, nach einer illegalen Grabung ungeschoren davonzukommen, weitaus größer als etwa nach dem Überfall auf eine Tankstelle.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 43/2008.