Was war die treibende Kraft hinter den gefürchteten Raubzüger der Wikinger nach England und Irland? Die Frauen, glaubt der Archäologe James Barrett vom McDonald Institute for Archaeological Research der Cambridge University. Oder vielmehr deren Abwesenheit. Die Wikinger, so der Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Antiquity, hätten unter Frauenmangel gelitten. Dieser Zustand sei allerdings selbst verschuldet. In den Íslendinga sögur (Islandsagas) und anderen mittelalterlichen Quellen finden sich immer wieder Hinweise auf Infantizide, Tötungen von Neugeborenen. Besonders Mädchen hatten schlechte Karten. Die Praxis rächte sich später, wenn es darum ging, heiratsfähige Frauen zu finden. Also segelten die jungen Männer los, sich anderweitig ein Weib und die finanziellen Mittel zum Erwerb eines eigenen Hofes zu besorgen. Denn trotz der Fokussierung auf den Krieg waren eine Frau und ein Hof geschätzte Prestigeobjekte in der Gesellschaft der Wikinger, erklärt Barrett dem Spiegel. Die These des Archäologen findet Rückhalt in der archäologischen Fundlage. Die Gräber der Frauen enthalten oft feine Stoffe, Schmuck oder Geschirr, das ihre Männer einst in der Ferne hatten mitgehen lassen als ein letztes Andenken an die Heimat.
Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 40/2008.