Finanzgenie statt Femme fatale

Sie gilt als Luder der Renaissance und als so mordlustig, dass Wildwest-Legende Buffalo Bill sogar sein Gewehr nach ihr benannte. Doch Lucrezia Borgia (1480 bis 1519) war den Erkenntnissen der Historikerin Diane Yvonne Ghirardo von der University of Southern California zufolge vor allem eins: „eine äußerst erfolgreiche kapitalistische Unternehmerin”. Die italienische Fürstin spanischer Abstammung, die Zeitgenossen als wunderschön, blond und mit sonnigem Gemüt gesegnet beschreiben, erwarb in großem Maßstab scheinbar wertloses Sumpfland, ließ es mit Hilfe von Entwässerungsgräben und Kanälen trockenlegen und nutzte es dann anschließend als Weideland oder für den Anbau von Getreide, Bohnen, Oliven, Flachs und Wein. Innerhalb von sechs Jahren kaufte sie in Norditalien zwischen 12000 und 20000 Hektar Land auf – kein Mann zu ihrer Zeit spekulierte in diesem Umfang mit Grundstücken. Obwohl Lucrezias Bilanzen seit langem in Archiven offen zur Verfügung stehen, war Historikern ihr offenkundiges Spekulationsgeschick bislang entgangen. Weil sie eine Frau war, nahmen Renaissance-Forscher in den Geschäftsunterlagen bislang nur die Zahlungen für Kleidung, Schmuck oder Kunstwerke zur Kenntnis. Für all das interessierte sich Lucrezia offenbar wenig. Statdessen fand Forscherin Ghirardo in den Büchern immer wieder große Spenden an die Kirche.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 04/2009.

Kneipe im Wohnzimmer

Dass die Alten Griechen ihre Abende bevorzugt zechend in der Taverne verbrachten, wollen uns zahlreiche Komödien und Anekdoten weismachen – nur fanden Archäologen bislang nie Überreste dieser angeblich so verbreiteten Eckkneipen. Das brachte Clare Kelly Blazeby von der University of Leeds auf die Idee, dass ihre Kollegen vielleicht nach den falschen Spuren gesucht haben könnten: Die Tavernen des klassischen Griechenland, so Blazebys Hypothese, waren keine eigens zu diesem Zweck genutzten Gebäude. Statt dessen funktionierten die Griechen ihre Wohnräume zu Kneipen um. Als Beleg dafür sieht Blazeby die Unmengen Geschirr, die in etlichen Privathäusern gefunden wurden – viel mehr, als selbst eine kinderreiche Großfamilie gebraucht hätte. Allein aus den Ruinen eines Wohnhauses in Halieis etwa holten die Archäologen 209 Trinkbecher und 148 Krüge. In den Abfallgruben solcher Häuser fanden Ausgräber meist auch außergewöhnlich viele Tierknochen – die Forscher schließen daraus, dass bei den Gelagen auch Snacks ausgegeben wurden.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 04/2009.

Morbider Totenkult

Das Volk der Nazca, das zwischen 200 v. Chr. und 600 n. Chr. die Küstenwüste im heutigen Peru bewohnte, pflegte einen Brauch, über den Archäologen lange rätselten: Wie Darstellungen auf Gefäßen zeigen, durchlöcherten die Indianer Totenschädel, fädelten sie auf Schnüre und trugen sie als Trophäen bei sich – nur wessen Schädel? Kelly Knudson von der Arizona State University in Tempe hat die Antwort im Zahnschmelz gefunden: Die darin enthaltenen Isotopen-Signatur von Strontium, Kohlenstoff und Sauerstoff hängt vom Wasser und der Nahrung ab, die der Mensch zu sich genommen hat und unterscheidet sich von Ort zu Ort. Knudsen verglich entsprechende Proben von Trophäenschädeln und von intakten Nazca-Mumien. Das Ergebnis: Sowohl die Toten, die als Trophäen geendet waren, als auch die Trophäenträger hatten dasselbe Wasser und Gemüse zu sich genommen. Sie waren also offenbar keine Feinde aus anderen Dörfern, sondern eher Verwandte. Offen bleibt allerdings die Frage, ob die Nazca Mitglieder ihrer eigenen Familie rituell opferten oder die Köpfe ihrer auf natürliche Weise verstorbenen Verwandten mit sich herumtrugen – als Ritual eines morbiden Totenkultes.

Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 03/2009.