Tore wie Tempeltüren

Die große Mauer als Grenze zwischen Ming und Mongolen

Colonel Robert McCormick sammelt Steine. Alle seine Korrespondenten wissen Bescheid: Wenn sie von einer Auslandsrecherche zurück in die Redaktion der Chicago Tribune kommen, freut sich der Herausgeber über einen Stein fast so sehr wie über eine gelungene Reportage. Die Brocken lässt er dann in die Fassade des „Tribune Tower“ einbauen – jenes imposanten Wolkenkratzers an der North Michigan Avenue Nr. 435, den McCormick in den Jahren zwischen 1922 und 1925 für sein Zeitungsimperium hat bauen lassen. Bis heute wird dieser Brauch fortgeführt, inzwischen ist die McCormick-Sammlung auf 141 Steine angewachsen. Ein Marmorbrocken vom Parthenon in Athen prangt dort, ein Stück ägyptische Pyramide, ein Stein aus dem indischen Taj Mahal, ein Betonklumpen aus der Mauer, der einst West- von Ostberlin trennte. Sogar ein Souvenir vom Mond stellt die NASA als Leihgabe für den Tribune Tower zur Verfügung. Und natürlich darf ein Stein nicht fehlen in dieser Sammlung am Tribune Tower: ein Stück der Großen Chinesischen Mauer.

Was ist es, das uns an dieser Mauer so fasziniert? Noch im 18. Jahrhundert stehen die Schränke der Reichen voll mit Porzellanschälchen und Lackdöschen, in den Regalen ihrer Bibliotheken lagern die Werke chinesischer Philosophen, ihre Parkanlagen sind mit Brücken und kleinen Teehäusern chinesischen Gartenlandschaften nachgeahmt. Doch über diese Chinoiserien hinaus ist es immer wieder die Mauer, an der sich die Faszination für das Reich der Mitte aufhängt. Als Bollwerk gegen den Feind. Als von Menschenhand geschaffenes Monument, das die Natur bezwingt. Als technische Meisterleistung, als Machtbeweis, als ein Weltwunder. Wer als Tourist heute die Mauer sucht, findet sich wahrscheinlich zunächst gemeinsam mit hunderten Anderer auf einem Parkplatz mit Souvenirbuden in der Nähe von Beijing wieder. Chinesen bieten Fotos der Besucher in der Rüstung eines Bogenschützen an; Frauen stöckeln auf hohen Absätzen über die holprigen Wege; Männer feilschen mit Andenkenhändlern um T-Shirts, auf denen in großen Lettern „I climbed the Wall“ prangt. Doch nur ein paar Minuten jenseits des staatlich kontrollierten Busparkplatzes beginnt eine andere Welt. Hier liegt ein datierter Ziegel, den vielleicht ein Baumeister vor vielen Jahrhunderten an dieser Stelle eingefügt hat. Da öffnen sich die Berge und geben den Blick frei auf eine atemberaubende Landschaft. Was am Ende des Tages als Eindruck bleibt, ist das Bewusstsein: Ich habe etwas großartiges gesehen.

Doch was ist die Mauer wirklich? Ihre Länge ist nicht bekannt, die Schätzungen liegen zwischen 5000 und 8000 Kilometern. Zum einen verläuft die Mauer nicht gerade, sondern passt sich den natürlichen Begebenheiten der Landschaft an. Oft folgt sie Bergkämmen, deren steile Flanken der Mauerkrone noch zusätzliche Dramatik verleihen. Machmal setzt sie streckenweise aus: An einigen Stellen machen fast senkrechte Felswände die Mauer auf Kilometer hin überflüssig, an anderen übernimmt ein Flusslauf die Aufgabe der Grenzwehr. Zum anderen verläuft die Mauer im Ordos-Gebiet teilweise doppelt. In der Südmandschurei ist sie dagegen eher ein Weidenflechtwerk denn ein Bollwerk aus Stein. Erste Mauern gegen den Feind aus der Steppe bauten die Chinesen bereits lange vor Christi Geburt. Über nahezu ein-einhalb Jahrtausende errichteten die nachfolgenden Dynastien immer wieder neue Mauern oder setzten alte Abschnitte instand. Doch das sind die archäologischen Details. Was wir vor unserem inneren Auge sehen, wenn wir an die Chinesische Mauer denken, ist die Mauer der Ming-Dynastie: die „Große“ Mauer.

Die Geschichte der Ming beginnt in Armut und Elend. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts herrschen die Yuan-Mongolen in China. Epidemien und Hungersnöte plagen das Land, ausgelöst durch eine Laufänderung des Huanghe, des Gelben Flusses. In den Dörfern um Nanjing hat der junge Zhu Yuanzhang keine schöne Kindheit. Seine Eltern sind so arm, dass sie häufig den Wohnort wechseln müssen, um vor den Pachtforderungen der Landbesitzer zu fliehen. Einige seiner Geschwister lernt Zhu Yuanzhang nur für kurze Zeit kennen – bevor die Eltern sie an Fremde geben; weil sie nicht wissen, woher sie den Reis für zusätzliche Esser nehmen sollen. Als seine Eltern schließlich sterben, hat Zhu Yuanzhang nicht einmal genug Geld, ihre toten Körper in Särgen zu bestatten – nach der konfuzianischen Lehre ein unverzeihliches Vergehen gegen die Kindespietät, eine der Kardinaltugenden. Er versucht, der Armut in einem buddhistischen Kloster zu entfliehen. Doch die Mönche schicken ihn zum Betteln wieder auf die Straße. Zhu Yuanzhang schließt sich einer Miliz der Yuan-Herrscher an. Er verprügelt seine eigenen Landsleute, schlägt lokale Aufstände seiner ehemaligen Nachbarn nieder – doch als Soldat muss er endlich nicht mehr hungern. 1352 wechselt er dann die Seiten. Er tritt der Rebellentruppe „Weißer Lotus“ bei; einer chiliastischen Sekte, deren Lehre sich aus einer wilden Mischung von Manichäismus, Maitreya-Kult, Volksbuddhismus, Konfuzianismus und Daoismus zusammensetzt. Er heiratet die Tochter des Anführers und übernimmt nach den Tod des Schwiegervaters 1355 die Führung der Truppe. Mit Erfolg: Dreizehn Jahre später erobert Zhu Yuanzhang Beijing und lässt die „Grosse Hauptstadt“ (Dadu) der verhassten Mongolen schleifen.

Doch in der Metropole der ehemaligen Feinde will Zhu Yuanzhang nicht residieren. Er ruft seine alte Heimat Nanjing zur Hauptstadt aus, innerhalb kurzer Zeit schwillt deren Einwohnerzahl von 100 000 auf etwa eine Million. Die neue Kaiserstadt bekommt eine Stadtmauer, 50 Kilometer lang, und prächtige Paläste. Von den Yuan übernimmt Zhu Yuanzhang das Prinzip der Erbdienerschaft für Soldaten und Handwerker des Hofes. Die Kaufleute stöhnen unter einer immensen Steuerlast. Doch zu laut darf sich niemand über den neuen Kaiser beschweren. Denn überall lauern die Spitzel des Herrschers. 30 000 Todesurteile fällt er in nur 14 Regierungsjahren. Bei von Zhu Yuanzhang angeordneten „Säuberungen“ sterben noch einmal 70 000 Menschen. Zumindest dem Namen nach sind für China jedoch glorreiche Zeiten angebrochen: Ming bedeutet übersetzt „hell“ oder auch „erleuchtet“.

Nach Zhu Yuanzhangs Tod entbrennt ein Bürgerkrieg, aus dem schließlich 1403 sein vierter Sohn Chengzu als Sieger hervor geht. Chengzu, der als Kaisernamen seine Regierungsdevise Yongle, „Ewige Freude“, annimmt, proklamiert erneut Beijing zur Hauptstadt. Hunderttausende von Arbeitern machen sich daran, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen – prächtiger als je zuvor. Gleichzeitig beginnt die Wiederherstellung des Großen Kanals (1411 – 1415). Über 15 Schleusen verbindet er Beijing mit dem westlichen Shandong. Auf ihm schaffen in den folgenden Jahren täglich 160 000 Soldaten auf 15 000 Boten Lebensmittel in die Hauptstadt. Überall herrscht reges Treiben: Baustellen entstehen, Menschen tragen Steine und Sand, Bauleiter vermessen Gebäude und Schächte.

Strategisch ist Beijing in diesen Jahren als Regierungssitz denkbar ungünstig gewählt. Direkt hinter den Bergen, an deren Südfuß die neue Kaiserstadt liegt, beginnt die Steppe – der Einflussbereich der Mongolen. Der Yongle Herrscher strebt langfristig, ebenso wie auch schon Zhu Yuanzhang vor ihm, die Kontrolle über dieses karge Gebiet an. Um sein Ziel zu erreichen benutzt der Kaiser die Steppenvölker wie Figuren auf einem Schachspiel. Mal verbündet er sich mit den Westmongolen; als diese zu viel Einfluss gewinnen hetzt er ihnen die Ostmongolen entgegen. Zum Preis bekommen seine temporären „Freunde“ üppige Titel verliehen und militärische Aufgaben übertragen. Doch diese Taktik verschlingt Unsummen und gewährt auf Dauer keine Garantie für Frieden. Zur Kontrolle der Steppe leisten Anfang des 15. Jahrhunderts 531 000 Soldaten Dienst im Grenzgebiet – die alle bezahlt und mit Nahrungsmitteln aus dem chinesischen Kernland versorgt werden wollen. Die kleinen Militärkolonien betreiben zwar Ackerbau, doch ständige Überfälle verhindern ein geregeltes Bestellen der kargen Felder.

Ein halbes Jahrhundert lang bleibt das ungesicherte Grenzgebiet ein Fass ohne Boden, in das der chinesische Staat Männer und Geld hineinwirft. Die Generäle weigern sich, dem Trauerspiel mit einem groß angelegten Feldzug ein Ende zu setzen: Die Männer seien zu wenig und schlecht ausgebildet, die Pferde zu müde, die Feinde zu stark. Schließlich besinnt sich eine Gruppe von Beratern bei Hofe auf das alte Prinzip der Verteidigungswälle, die ihre Vorfahren einst gegen die Xiongnu errichteten. Die Argumente, die sie für ihr Projekt vorbringen, haben sich seit den Tagen der ersten Dynastien nicht geändert. Schon ein Jahrtausend zuvor plädierte der Beamte Gao Lü, damals im Dienst der Nördlichen Wei: „Die Nordbarbaren sind wild und unzivilisiert wie die Vögel und die Vierfüßler. Sie beherrschen den Kampf auf freiem Feld, aber nicht das Erstürmen von Befestigungen. Wenn wir ihre Schwäche nutzen und sie so ihrer Stärke berauben, werden sie uns selbst mit ihrer großen Zahl keinen Schaden zufügen und im Inneren nicht mehr bedrohen, wenn sie heranrücken.“

Bei Hofe beginnt das Rechnen. Ein Feldzug würde zwei Monate dauern und rund 150 000 Mann erfordern, dazu noch weitere Truppenteile für die Versorgung. Dagegen könnten 50 000 Mann in dem selben Zeitraum ein gutes Stück Mauer zwischen Ming und Mongolen stellen. Selbst ein unvollständiger Grenzwall wäre schon ein Erfolg: Lenkt er doch die Überfälle gezielt auf Lücken in der Mauer, die sich leichter bewachen lassen als tausende Kilometer ungesicherter Steppe. Zudem bedeutet eine gesicherte Grenze eine Investition in die Zukunft. Denn ist das Grenzgebiet erst einmal befriedet, kann sich dort ungestört Landwirtschaft entwickeln. Das Heer muss nicht mehr mit Nahrung aus weit entlegenen Landesteilen versorgt werden und kann künftig sogar noch offensiv über die Mauer hinaus gegen die Mongolen vorstoßen.

1473 stürmt ein kleiner Trupp von nur 4600 Ming-Kavalleristen durch die Ordos-Wüste dem Feind entgegen. Sein Ziel ist jedoch nicht das große Mongolenheer, gegen das jeder Angriff einer so kleinen Abteilung Selbstmord wäre. Sie schwenken ab und galoppieren geradewegs auf die Zeltstädte zu, in denen Frauen und Kinder ihrer täglichen Arbeit nachgehen. Die Ming stecken die Jurten in Brand, treiben tausende von Kamelen, Rindern, Pferden und Schafen aus ihren Gehegen in Richtung Grenze. Die herbeieilenden Mongolen lassen sie in einen Hinterhalt laufen. Was jedoch auf ersten Blick wie ein genialer Husarenstreich wirkt, ist nur ein Ablenkungsmanöver. Denn die Zeit, welche die Mongolen brauchen, um sich von diesem Schlag erholen, nutzen die Ming zum Beginn des Baus der großen Mauer.

Im folgenden Sommer schon stehen die ersten Wälle. Ein Mauerstück erstreckt sich über 200 Kilometer vom rechten Ufer des Gelben Flusses auf der Höhe der heutigen Großstadt Yinchuan nach Südosten bis zum See Huamachi. Der zweite Abschnitt ist 900 Kilometer lang und beginnt auf der Ostseite des Ordos-Bogens gegenüber dem heutigen Hequ, verläuft von dort nach Südwesten und endet ebenfalls am Huamachi-See. Über 800 Bauten verleihen dem Verteidigungswall zusätzliche Sicherheit: Festungen, Wachtürme, Signaltürme. Kosten für das Bauprojekt: eine Million Silberunzen. Acht Jahre später muss die Mauer ihre erste Bewährungsprobe bestehen. Ein kleines Mongolenheer fällt zu einen Plünderungsfeldzug im Reich der Ming ein. Doch die kaiserlichen Truppen treiben die Angreifer an den Grenzwall. Von dem Bauwerk im Rücken an der Flucht gehindert erleiden die Mongolen eine schwere Niederlage.

Im südlichen Ordosgebiet herrscht fortan Ruhe. Östlich davon, zwischen dem gelben Fluss und dem Meer, können hingegen die Mongolen weiterhin ungestört in chinesisches Territorium einfallen. Jahrzehntelang scheut der Hof weitere Kosten für die konsequente Fortsetzung des Mauerbaus. Die Leidtragenden sind die Bauern, die mit regelmäßigen Überfällen, Viehdiebstählen und der Verwüstung ihrer Äcker leben müssen. Unterdessen wächst bei den Mongolen ein mächtiger Mann heran. Altan Khan wird zum stärksten Führer seit Beginn seiner Dynastie. Zunächst verhält der Herrscher sich friedlich. 1541 und erneut 1542 bittet er um Erlaubnis, mit dem chinesischen Reich Handel treiben zu dürfen. Erst als die arroganten Ming ablehnen, kehrt er zu den altbewährten Raubzügen zurück.

Ohne durchgängigen Plan stückelt das Ming-Reich weiterhin an der Mauer. In der Gegend von Datong hatten die Bauarbeiten bereits in den 1530er Jahren begonnen, zunächst mit einer einfachen Stampflehmmauer. Bis 1587 entstehen hier jedoch 788 Signaltürme und 52 neue Forts, zusätzlich zu den 20 bereits bestehenden. Im Jahrzehnt darauf beginnt auch der Mauerbau nördlich von Beijing. Ab 1548 ist die Hauptstadt endlich im Norden und Westen von einem 850 Kilometer langen Mauerabschnitt geschützt. Doch der Baumeister dieser Strecke, Weng Wanda, weiß um die noch ungeschützte Flanke im Osten. Er berechnet einen Kostenvoranschlag: 70 000 Mann, 436 000 Silberunzen und 152 Tage würde er brauchen, um den Verteidigungsgürtel um die Stadt zu schließen. Der Hof gewährt Weng Wanda Zeit und Arbeitskräfte, nicht jedoch das Geld. 70 000 Silberunzen sollen genügen. Auch Altan Khan kennt die Schwachstelle des Bauwerks. 1550 bricht er mit 100 000 Reitern durch die Lücken in der Befestigung. In den folgenden Tagen ziehen seine Männer plündernd und brandschatzend durch die Vororte Beijings. Von den Stadtmauern aus müssen die Regierungsbeamten hilflos zusehen, wie die Felder und Hütten der Bauern in dichten Rauchschwaden aufgehen. Der Schock sitz tief. Es beginnt eine Blütephase des Mauerbaus, die bis ins 17. Jahrhundert hinein anhalten soll.

Als Material wird verwendet, was die jeweilige Gegend an natürlichen Ressourcen bietet. Im Gebirge bauen die Soldaten mit Steinen. Dazu müssen sie zunächst einen eben Untergrund schaffen – an den steilen Hängen oft keine leichte Aufgabe. Bei der Festungsanlage am Juyong Pass zwischen Beijing und Badaling ist noch gut zu sehen, wie das Fundament aus Steinplatten auf einer künstlich geebneten Fläche aufliegt. Meist ist das Mauerwerk zweischalig. Außen- und Innenfront sind entweder aus Steinquadern oder Backsteinen aufgemauert, der Hohlraum dazwischen mit Erde und Kalk verfüllt. Nur die abschließende Mauerkrone samt Brustwehr und Zinnen besteht aus soliden Steinschichten. An sanften Steigungen folgt die Mauer der Neigung des Hangs, fällt die Bergwand jedoch zu steil, wie beispielsweise in der Nähe von Shanhaiguan, helfen Treppenstufen zum Ausgleich des Geländes. Ganz anders gestaltet sich der Aufbau in der Wüste Gobi bei Dunhuang. Hier besteht die Mauer aus etwa 20 Zentimeter dicken Schichten von Sand und Kieseln, die sich mit 5 Zentimeter starken Lagen von Tamariskenzweigen und Schilf abwechseln. Diese Bauweise erweist sich als erstaunlich haltbar. Noch heute steht die Mauer hier an vielen Stellen bis zu ihrer ursprünglichen Höhe von sechs Metern. In den Ebenen und Lößgebieten bietet sich die Lehmbauweise an. Zu beiden Seiten treiben Arbeiter Pfosten in den Boden und kleiden diese mit Schalbrettern aus, zwischen die sie dann den Lehm füllen. Während der Ming-Zeit setzt sich zunehmend die Verwendung von künstlich hergestellten Bauelementen, also Backsteinen und Ziegeln durch. Wo immer möglich, brennen die Arbeiter das Material vor Ort. Wenn eine Region nicht genügend Rohstoff hergibt, werden die Ziegel aus der Nachbarschaft herbeigeholt. So zeigen Backsteine in Shanhaiguan Stempel, die sie als Baumaterial aus Bezirken der Umgebung kennzeichnen. Nicht einmal auf einzelnen Streckenabschnitten folgen die Baumeister allerdings einheitlichen Standards. In der Nähe von Beijing schwankt die Mauerbreite an der Basis zwischen sieben und acht Metern, nach oben verjüngt sie sich zu etwa fünf Metern. An der Krone ist sie sechs bis neun Meter hoch, mit Brustwehr und Zinnen dann 7,5 bis 19,5 Meter.

Den Transport des Baumaterials übernehmen zumeist menschliche Arbeitskräfte, entweder direkt auf dem Rücken oder in Körben, die an den beiden Enden einer über die Schultern gelegten Tragestange aufgehängt sind. Mitunter bilden lange Menschenreihen, die Eimer oder Steine von Hand zu Hand reichen, die einfachste Verbindung vom Steinbruch zur Baustelle. Für längere Strecken dienen Schubkarren als mechanisches Transportmittel. Große Felsblöcke von bis zu 500 Kilogramm legen die Arbeiter auf hölzerne Walzen und bewegen sie mit Hebeln und Flaschenzügen vorwärts. Über Schluchten und enge Täler schaffen die Baumeister das Material mit Hilfe von Seilen, an denen Körbe hin- und zurückgezogen werden können. Für den Streckenabschnitt am Berg Badaling ist der Einsatz von Lasttieren überliefert. Ziegen und Esel können die steilen Pfade besser bewältigen als jeder Mensch. Also binden die Arbeiter den Eseln Körbe auf den Rücken und den Ziegen Steine angeblich direkt an die Hörner. Einmal auf den Weg geschickt trotten die dressierten Tiere alleine zur Baustelle und kehren anschließend ohne Last wieder zurück.

Natürlich fordert der Mauerbau seine Opfer. Stellvertretend für die vielen Tausend, die bei der Errichtung des gigantischen Verteidigungswerkes ihr Leben ließen, steht Meng Jiang aus der Provinz Shaanxi. Der Legende nach soll ihr Mann zur Zeit des ersten Kaisers Qin Shihuang di zum Mauerbau eingezogen worden sein. Er musste fern der Heimat, bei Shanhaiguan, wo die Mauer ins Meer zu stürzen scheint, seinen Dienst leisten. Als der Winter einbrach, machte Meng Jiang sich große Sorgen um ihren Gatten, der fern im rauen Grenzgebiet unter widrigen klimatischen Bedingungen weilte. Also packte sie warme Kleidung und wanderte zu Fuß die ganze lange Strecke zu ihrem Geliebten. Doch als Meng Jiang dort ankam erfuhr sie, dass er bereits erfroren war. Die Witwe klagte bitterlich. Da verdunkelte sich der Himmel und die Mauer tat sich auf, um die Gebeine ihres Mannes frei zu geben. Meng Jiang sammelte die Knochen ein und stürzte sich mit ihnen ins Meer. Schon früh stand an dieser Stelle ein Tempel, der an ihr Schicksal erinnerte. Unter den Ming, als dem Mauerbau erneut Heerscharen von Männern zum Opfer fallen, wird der inzwischen heruntergekommene Tempel wieder aufgebaut.

Vielerorten spricht der Stolz der Baumeister auf ihr Mauerwerk aus den Überresten – und verrät, dass die Anlage nicht nur zur Verteidigung, sondern durchaus auch repräsentativen Zwecken diente. Die Sperrfestung am Jiayuguan-Pass beispielsweise liegt weit draußen in der Wildnis. Doch der Turm ihres Osttores kann mit seinen reichen Schnitzereien an Säulen und Gebälk sowie seinem kunstvoll verzierten Dach durchaus mit jedem Großstadt-Tempel konkurrieren. An anderen Stellen erzählen Inschriften mit Daten und Namen von der persönlichen Bindung der Erbauer an ihr steinernes Kunstwerk. Eine von ihnen lautet: „Cui Jing, Brigadegeneral und Kommandeur der Miliz im Befehlsbereich des vom Kaiser eingesetzten Gouverneurs von Baoding. Fähnrich Shen Zixian der genannten Abteilung, Fähnrich Sun Erguo als Bauleiter, Liu Zhang als amtlicher Bauunternehmer und weitere 130 namentlich Erfasste arbeiteten am Bau dieser 591 Fuß (etwa 194 Meter) langen Erweiterung einer Mauer Dritter Klasse, die im Norden an (…) dem Turm Nr. 55 der Serie „Schwarzes Schriftzeichen Wu“ beginnt. Der Bauabschluß wurde von der Herbstwache am 16. Tage des 9. Mondes des 4. Jahres der Wanli-Ära gemeldet. Maurer- meister Zhao Yanmei nebst anderen, Grenzbaumeister Lu Huan nebst anderen.“

Das Ende der Ming-Dynastie kommt nicht von Außen, sondern gärt wie eine Fäulnis aus ihrem Inneren heraus. Neben dem Mauerbau sind es vor allem die Apanagen der Prinzen und die Ausgaben für den Korea-Feldzug, die Unsummen an Geld verschlingen. Um diese Kosten zu decken, erhöht die Regierung die Steuern. Als Missernten die Not der Bevölkerung noch zusätzlich verschärfen, kommt es zu Volksaufständen. 1644 marschieren die Rebellen in Beijing ein. Der letzte Ming-Kaiser erhängt sich, um der Schande zu entgehen. Doch noch hält ein General dem Kaiserhaus die Treue. Im fernen Shanhaiguan bewacht Wu Sangui weiterhin seine Festung. Als die Aufständischen ihn zur Unterwerfung auffordern, schickt er ein Hilfegesuch an die Mandschu. Am 27. Mai erscheint ihr Heer vor Shanhaiguan, Wu Sangui öffnet ihnen die Tore. Die Mandschu aber stürmen direkt gen Beijing, erobern die Stadt und China gleich mit. Nur fünf Monate später besteigt Fulin, Sohn des Abahais, als erster Kaiser der neuen Qing-Dynastie den Drachenthron.

Damit wird die Große Mauer bedeutungslos. Die Mandschus sind bereits mit den Mongolen verbündet. Nach der Eroberung Chinas dehnen sie ihr Reich energisch weiter aus, bis es eine nie da gewesene Größe erreicht: Um 1760 umfasst es Südostsibirien und die ganze Äußere Mongolei, reicht im Westen über die Grenzen des heutigen China hinaus bis an den Balchasch-See. Erstmals ist auch Tibet Teil des Reiches. Die Mandschu herrschen mit militärischer Macht, Diplomatie und Religion. Eine ernsthafte Bedrohung aus der Steppe gibt es nicht mehr. Während die Große Mauer verfällt, erlebt die konfuzianisch-chinesische Kultur ihre letzte große Blütezeit. Erst im 19. Jahrhundert werden wieder Feinde nach China kommen: über das Meer.

Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, die chinesische Mauer sei das einzige von Menschenhand errichtete Bauwerk, das mit bloßem Auge vom Weltall aus zu sehen sei. Doch selbst an den noch gut erhaltenen Stellen sind die Stein- und Lehmreste zu niedrig, um ausreichend lange Schatten zu werfen. In den aufgezeichneten Gesprächen zwischen dem Piloten der ersten Mondfähre Neil Armstrong und der NASA fällt nicht ein einziges mal der Begriff „Große Mauer“. Wer sie einmal aus der Vogelperspektive sehen will, der wünsche sich gutes Wetter beim Landeanflug auf Beijing. Dort schlängelt sich das Bauwerk wahrlich majestätisch über die Gebirgszüge, welche der Stadt im Norden vorgelagert sind. Als beeindruckend empfand 1972 auch Richard Nixon die Anlage, als er mit seinem historischen Spaziergang auf der Mauer die dreißigjährige Feindschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Kommunistischen Volksrepublik China beendete. Der Präsident der USA bemerkte staunend: „Was für eine große Mauer das ist…“

Dieser Text diente als erste Vorlage für die Fernsehproduktion „ Der Superwall – Chinas Große Mauer“.

Produziert von Gruppe 5 für ZDF, ZDF-E, National Geographic Channels International, National Geographic Channel US, SBS, in Kooperation mit CCTV und CITVC.

Den Trailer auf der Webseite der Gruppe 5 ansehen»

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