Erdbebenfrösche und Lotusfüsse

Das goldene Zeitalter der Erfindungen unter der Song-Dynastie

„Feuer! Es brennt! Feuer!“ durchschneidet am 12. April 1208 ein Gellen das gedämpfte Nachtgemurmel in den Straßen Hangzhous. Und sofort beginnt die Stadt sich zu regen. Zuerst ändert sich die Geräuschkulisse: „Feuer! Es brennt!“ nimmt der Rufer eines Wachturmes die Warnung auf, trägt den Alarm über die Dächer der Häuser hinweg zu den Wachstationen. Das gleichmäßige Summen in den Straßen schwillt an, wird lauter und schriller. Dann setzt die Bewegung ein. Hastende Füße scharren über das holprige Pflaster. Menschen eilen in Strömen zu den Feuerwachen. Hier liegen Hacken, Schaufeln, Eimer, Seile, Signalflaggen, Lampen und in Asbest getränkte feuerfeste Kleidung bereit, mit denen Soldaten und Helfer in Windeseile Wasser transportieren, Schneisen in die Stadt schlagen und Bergungsaktionen koordinieren können. Die Routine der Feuerwehr ist überlebenswichtig für die Stadt. Denn Hangzhou im Jahr 1208 ist wie ein Scheiterhaufen, der nur auf die nachlässig geschwenkte Fackel, die umgekippte Öllampe oder den unachtsam aufgehängten Papierlampion wartet. Holzhaus steht hier an Holzhaus, die meisten mehrere Stockwerke hoch. In den engen Lücken zwischen den Gebäuden fällt niemals ein Sonnenstrahl bis auf den Boden.

Knapp eine Million Menschen drängen sich in den Gassen. Ein Gemüsegarten oder ein Hinterhof für Tiere, sonst in chinesischen Großstädten der Standard, wäre in Hangzhou undenkbarer Luxus. Ein Schwein hat keinen Platz mehr, wo 80 Menschen auf 1000 Quadratmetern leben. Im heutigen Berlin teilen sich vier Menschen den gleichen Lebensraum. Ruhig stellen lässt sich dieser Moloch nie. Eine Ausgangssperre, wie in anderen Städten früher üblich, könnte in Hangzhou kaum greifen. Und so machen Lampen und Lichter die Nacht zum Tag und die Stadt zur Feuerfalle. 13000 Häuser fallen 1132 einem Brand zum Opfer, noch einmal 10000 sind es nur fünf Jahre später. Das Feuer vom 12. April 1208 wütet vier Tage und vier Nächte und macht 58000 Behausungen unbewohnbar. Bis zur Belagerung der Stadt durch die Mongolen 1275 soll Hangzhou noch drei mal ohne Feindeseinwirkung niederbrennen. Die Opfer hat niemand gezählt. Aber die Überlebenden bekamen Hilfe vom Staat. Als der Rauch sich am 16. April langsam verzieht, erhält jeder Erwachsene, der seine Wohnung verloren hat, 500 Kupfermünzen und 2 1/4 Scheffel (14,8 Kilogramm) Reis, jedes Kind bekommt 200 Kupfermünzen und einen Scheffel des chinesischen Grundnahrungsmittels.

Diese Enge ist nicht ganz freiwillig gewählt. 1126 erstürmen die Jin – eine Dynastie, die Dschurdschen aus der östlichen Mandschurei gründeten – nach zweimonatiger Belagerung Kaifeng, die Hauptstadt der Song. Bei den anschließenden Plünderungen finden die Jin den Kaiser Huizong, seinen Nachfolger und ältesten Sohn, sowie 3000 weitere Mitglieder der kaiserlichen Familie angsterfüllt im Palast verschanzt – was für eine Gelegenheit! Sie verschleppen den Kaiser samt Hofstaat nach Norden und weigern sich strikt, ihn wieder herauszugeben. Die Song sind traumatisiert. Sie fliehen nach Süden, erklärten Hangzhou zur provisorischen Hauptstadt und den jüngsten Sohn des Huizong zum neuen Kaiser. Die Harmonie der Welt ist aus den Fugen geraten. Der eigentliche Kaiser, verantwortlich für das Gleichgewicht des Universums, fristet als Gefangener sein Leben. Die Hauptstadt, die nach chinesischem Glauben streng rechteckig und nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet sein soll, wuchert wild als Häuserdschungel. Nicht einmal der Palast des neuen Kaisers steht am richtigen Ort. Während in der kosmologischen Ordnung die Residenz des Herrschers in den Norden gehört, liegen die kaiserliche Stadt und der Palast im Süden Hangzhous.

Alles, was Rang und Namen hat, drängt sich nun in Hangzhou auf engstem Raum. Und in diesem hölzernen Ameisenhaufen brodelt eine Kreativität, wie sie nur aus der Not geboren werden kann. Viele der Einwohner wenden sich vom Buddhismus als „fremder“ Religion ab, und besinnen sich statt dessen auf den Konfuzianismus. Dieser so genannte Neokonfuzianismus predigt für jeden die Pflicht, Reformen in der unmittelbaren Umgebung durchzuführen und so die Gesellschaft wieder zu stärken. Wissbegierige treffen sich in „Akademien“, sammeln und verbreiten philosophische Gedanken und neue Technologien. Kultur und Handwerk erleben eine außergewöhnliche Blüte. Ein chinesisches Sprichwort der Song-Dynastie weiß: „Oben gibt es den Himmel, auf Erden Hangzhou und Suzhou.“ Als Marco Polo Ende des 13. Jahrhunderts in die Stadt kommt, ist er überwältigt. Sie habe einen Umfang von 100 Meilen und 12000 Steinbrücken, die ihre Kanäle überspannen. Diese seien so hoch, dass eine große Schiffsflotte unter den Brückenbogen passieren könne. Zwölf Zünfte der verschiedenen Handwerke gebe es, und jede Zunft habe 12000 Häuser für ihre Handwerker. Die Zahl und der Reichtum der Kaufleute – und natürlich die Handelswaren, die durch ihre Hände gingen – seien so gewaltig, dass niemand eine rechte Schätzung davon machen könne. Daheim in Venedig klingen die Schilderungen des Reisenden wie ein Bericht aus dem Märchenland.

Schon zur Zeit der nördlichen Song, als Kaifeng noch Hauptstadt ist, überschlägt sich die Wissenschaft mit neuen Erfindungen. 1090 baut Su Song, Minister für Personalangelegenheiten, eine astronomische Wasseruhr. Zehn Meter hoch ist der weithin sichtbare Turm, in dem ein Schaufelrad von drei Metern Durchmesser mit Wasserkraft jede Viertelstunde ein Stückchen weiter geschoben wird. Eine mechanisch angetriebene Armillarsphäre, mit der sich die Positionen der Himmelskörper beobachten lassen, ein Himmelsglobus und ein feststellbares Fernrohr dienen den Astronomen zur Forschung. Doch auch das gemeine Volk freut sich an der „kosmischen Maschine“. Denn unmittelbar vor den Turm ist eine mehrstöckige Pagode gebaut. In ihrem ersten Stock sitzt eine Holzpuppe, die zu jedem hundertsten Teil des Tages (ke) eine Trommel schlägt. Eine weitere Figur zu ihrer Linken spielt dazu die Glocken – jede shi (Doppelstunde) eine kleine, jede halbe shi eine große. Im Stockwerk darüber tritt zum Schlag der großen Glocke je eine Puppe hervor, die in den Händen ein kleines Holztäfelchen trägt. Darauf ist angezeigt, welche halbe shi gerade eingeläutet wird. Dazu tanzen im dritten Stock 96 Holzfiguren ein kompliziertes Ballett. Nachts kommen schließlich noch die Bewohner des vierten Stockwerkes zum Einsatz. Zu jedem geng (einem Fünftel der Nacht) und chou (dem Fünftel eines geng) spielen sie eine Melodie auf einem Seiteninstrument.

Die Astronomen nutzen den Wunderturm für ihre Sternenbeobachtungen. Astronomie gilt als die wohl wichtigste Wissenschaft für den Kaiser: In seiner Verantwortung liegt es, dass alles seine kosmische Ordnung behält. Dazu richteten schon die ersten Kaiser Sternwarten ein und bezahlten die besten Astronomen, um den nächtlichen Himmel im Auge zu behalten. Denn der Nachthimmel ist in Felder aufgeteilt. Jedes von ihnen repräsentierte eine Region im Reich. Sichten die Sternengucker einen Kometen oder eine andere Himmelserscheinung in einem bestimmten Quadranten, so interpretieren sie dies entsprechend als Vorboten politischer Ereignisse.

Die irdische Entfernungen zu den Nachbarstaaten messen Geographen mit Hilfe von Odometern. Auch hier tanzen die Puppen im Dienste der Wissenschaft: Das Zahnradgetriebe der Odometer-Karren lässt eine darauf montierte Holzfigur bei jedem zurückgelegten li (rund 500 Meter) eine Trommel schlagen. Auf anderen Karren stehen Puppen, deren ausgestreckter Arm stets nach Süden weist. Einfachere Versionen des Kompass bestehen aus einer polierten Bronzeplatte, in deren Ecken die Himmelsrichtungen markiert sind. Darauf liegt ein Löffel aus Magneteisen, dessen Stil die südliche Richtung anzeigt – entsprechend lässt sich die Platte dann ausrichten. Schon seit der Han-Zeit kennen chinesische Wissenschaftler auch Seismographen. Durch den Anstoß eines empfindlichen Pendels fallen schon bei geringen Erschütterungen der Erde Metallkugeln in die Mäuler von Fröschen, die um den Rand eines Kessels platziert sind – und warnen so vor größeren Beben, die oft diesen ersten Vorboten folgen.

Ihre Beobachtungen und Erfindungen halten die Gelehrten der Song-Zeit in Büchern fest. Schon seit rund 500 Jahren drucken die Chinesen, was ihnen wichtig erscheint. Als erste gingen wohl die buddhistischen Mönche dazu über, ihre religiösen Schriften nicht mehr per Hand zu kopieren, sondern statt dessen zu drucken. Schriftstücke galten den Chinesen schon immer als heilig – Daoisten trugen sie gar als Amulette bei sich. Kaiser Huizong, bekannt als Kunstliebhaber und -sammler, lässt schließlich vor seiner Geiselnahme sogar Kataloge der Kalligraphien, Malereien und Antiquitäten in seinem Besitz drucken. Doch auch populäre Erzählungen und Gedichte kursieren fortan als Druckerzeugnisse in Auflagen, die in einigen Fällen Millionenhöhe erreichen. Manche Erfindungen erweisen sich als Sackgasse. So der Druck mit beweglichen Lettern, den 1045 ein Mann namens Bi Sheng als technische Neuerung einführen will. Die chinesische Schrift hat allerdings etwa 50000 verschiedene Zeichen – da ist es einfacher, jede Platte neu zu schnitzen. Fertige Druckstöcke weichen einen Monat lang in Wasser, dann werden sie mit Pflanzenöl eingerieben und mit Gras poliert. In Hangzhou leben zwei berühmte Geschlechter von Buchdruckern. Die Platten der Familien Yan und Qian sind so kunstvoll geschnitzt, dass die Meister ihre Werke sogar signieren.

Zu den religiösen und wissenschaftlichen Texten kommt während der Herrschaft der Song noch eine neue Art Druckerzeugnis hinzu: Papiergeld. Der Handel floriert in einem Maße, der die Bezahlung mit den schweren Metallmünzen zunehmend unpraktikabel macht. Auch das Auffädeln der Münzen, die zu diesem Zweck ein rechteckiges Loch in der Mitte haben, schafft da keine Abhilfe. Bis zu tausend Münzen binden die Geldwechsler auf Schnüre, alleine sechs Millionen dieser Schnüre produziert die staatliche Kupfermünzengießerei im Jahre 1073. Seit 1024 geben die Kaiser deshalb bunte Blätter aus. Sie leuchten in drei Farben: schwarze Ziffern und Zeichen vor einem zinnoberroten Kreis markieren den Wert, der Hintergrund ist indigoblau. Später benutzen die kaiserlichen Drucker sechs Farben und verwenden immer kompliziertere Muster, um die Scheine fälschungssicher zu machen. In der Zeit der südlichen Song kursiert Papiergeld im Gegenwert von 400 Millionen Schnüren. Den Scheinen ist Maulbeerbaumrinde und Seide beigemischt, um den Noten einen sanften Glanz zu verleihen – um ihren Wert auch haptisch kenntlich zu machen.

Die Seidenraupenzucht liegt schon seit Anbeginn in den Händen der Frauen. Nach einem alten chinesischen Mythos erfand Leizu aus Xiling, Gemahlin des legendären Gelben Kaisers (Huangdi, der traditionellen Geschichtsschreibung nach Herrscher von 2697-2597 v.Chr.), diese Kunst. Ihr Gatte widmete sich derzeit männlichen Interessen, er besiegte den rebellischen Chiyou, ordnete die Welt, schuf das Rad und ließ seine Minister den Kalender, das Rechnen und die Schrift erfinden. Die Betreuung der frisch geschlüpften Raupen ist sehr intensiv. Eine eigens bestimmte „Mutter“ – die ein gütiges, sanftes Wesen haben sollte – muss die kleinen Seidenspinner zunächst alle halbe Stunde mit fein zerkleinertem Maulbeerbaumlaub füttern. Das darf weder zu feucht noch zu trocken sein, weder zu warm noch zu kalt. Jede unnötige Störung der Raupen oder Fütterung von minderwertigen Blättern wirkt sich als Desaster auf die Qualität der Seide aus. Hat die Raupe mit ihrer Kindheit abgeschlossen, beginnt sie einen Kokon von zwei bis vier Metern Länge zu spinnen. Dazu braucht sie nur einen einzigen Faden – doch der ist rund 3000 Meter lang. Nur ein knappes Drittel der Länge lässt sich zu kostbarer Edelseide weiterverarbeiten. Seide ist in China schon in der Liangzhu-Kultur, um 3000 v.Chr., bekannt. Seit der Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) hielten erfolgreiche Züchter ihre Kenntnisse in Buchform fest. Das wohl berühmteste Werk, Gengzhitu, „Darstellungen zu Ackerbau und Seidengewinnung“, entstand im 12. Jahrhundert und zeigt in 23 sehr anschaulichen Bildern die verschiedenen Arbeitsgänge. Vor der Einführung des Papiergeldes diente die Seide selbst als Zahlungsmittel. Bauern konnten ihre Steuern in Seidenballen, Seidensträngen oder Kokons entrichten.

Noch heute sprechen wir von der Seidenstraße – jenem Handelsweg, der einst von China gen Westen führte. Bis ans Ufer der Donau gelangten auf ihm die Ballen des kostbaren Stoffes. Archäologen fanden ein Seidenfragment im Grab eines Fürsten aus dem Gräberfeld Hohmichels bei Sigmaringen. Wahrscheinlich waren es Skythen, die im 6. Jh. v. Chr. das feine Gewebe aus dem Osten mitbrachten. Zweihundert Jahre später zog Alexander der Große nach Indien. Auf dem Weg dorthin lernte sein Heer den schimmernden Stoff kennen – sehr zur Freude der makedonischen Weiblichkeit. Und noch einmal 120 Jahre sollte es dauern, bis Rom sich in Seide kleidete. Die Römer schätzten das chinesische Handelsgut so sehr, dass sie die Ballen mit Gold aufwogen. Zur Zeit der Song war die Seidenstraße bereits ein gefährliches Pflaster. Die politischen Unruhen in Zentralasien und im Orient sorgten für eine Verlagerung des Handelsweges auf die Schiffsroute um Südostasien.

Der Bedarf an Waren aus China blieb weiterhin groß. Neben edlen Stoffen fanden auch Keramikwaren den Weg an die Fürstenhöfe des Westens. Unter der Song-Dynastie erreicht die Porzellanmanufaktur einen technischen Höhepunkt. Erst jetzt kann man überhaupt von Porzellan sprechen, das durch eine Vermengung von Kaolin und Porzellanrohstoff entsteht, statt von porzellanartigem Steingut oder Proto-Porzellan. In den südlichen Provinzen Jiangxi und Fujian entdecken die Töpfer, dass die Mischung der beiden Stoffe zu einer weißen, harten, aber trotzdem durchscheinenden Keramik brennt. 1004 gründet Kaiser Zhenzong in der südlichen Stadt Jingdezhen eine Manufaktur, die schon bald floriert. Mit der Flucht des Kaiserhofes ins nahe Hangzhou steigert die Werkstatt ihre Produktion noch weiter. Hier entsteht das Geschirr mit der charakteristischen bläulich-weißen bis wolkenblauen Glasur. Das in Jingsdezhen später zur Ming-Zeit produzierte Porzellan kennt auch heute noch im Westen nahezu jedes Kind als Symbol für die Dynastie der Ming-Kaiser. Doch auch die feindlichen Jin im Norden sind währenddessen nicht untätig. Sie setzen mit der Erfindung der Emailtechnik einen weiteren Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte des Porzellans. Das Email wird mit einem Pinsel auf die schon gebrannte Glasur aufgetragen und in einer zweiten Brennung bei 750 bis 800 Grad Celsius zum Schmelzen gebracht.

Gegen die Herrschaft der Jin im Norden hilft indes keine Erfindung. Dabei beginnt in der Kriegskunst während der Song-Herrschaft eine neue Ära: der Gebrauch von Schwarzpulver zur Beschleunigung von tödlichen Projektilen, so genannten „Feuerkatapulten“. Statt Steinen schleudern die Krieger nun Schießpulvergeschosse in die feindlichen Reihen. Die militärische Überlegenheit währt nicht lang. Bald schon übernehmen die Jin und Yuan-Truppen diese Erfindung. 1044 erscheint in der Schrift Wujing zongyao erstmals eine Formel für Schießpulver, das aus fein geriebener Kohle, Salpeter und Schwefel hergestellt wird. Wie so viele Erfindungen der Menschheitsgeschichte ist auch das Schwarzpulver lediglich ein geistiges Abfallprodukt. In daoistischen Kreisen experimentierten die Gelehrten schon zur Han-Zeit mit den verschiedensten Elixieren, um die Formel für ewiges Leben zu finden.

Gleich ihren europäischen Alchemisten-Kollegen einige Jahrhunderte später blieben sie auf dieser Suche erfolglos. Stattdessen fanden sie Wege, menschliches Leben schnell und effektiv zu beenden: über Zündschnüre angetriebene Geschosse aller Art. Doch auch mit “Feuerpfeilen“ (fei huo), „Stachelfeuerbällen (jili huoqiu)“ und „Eisenschnabel-Feuersperbern (tiezui huoyao)“ oder „Bambus-Feuersperbern (zhu huoyao)“ gelingt es nicht, die Jin wieder zu vertreiben.

Nicht nur der Krieg, auch die Kultur blüht unter den Song. Dazu gehört der Anbau und vor allem der Konsum von Tee. Der Legende nach wächst er in China seit dem Jahr 526, als ein buddhistischer Mönch bei der Meditation vom Schlaf übermannt wurde. Vor Scham schwor er, dass dies nie wieder vorkommen solle, und schnitt sich beide Augenlider ab. Sie fielen zu Boden und schlugen Wurzeln, aus ihnen wuchsen die beiden ersten Teesträucher Chinas. Seit jenen Tagen gilt Tee als Pflanze der Wachsamkeit. Auch für Treue steht der bis zu einem Meter hohe Strauch – und ist aus diesem Grund in China ein beliebtes Geschenk zur Verlobung. Die Zubereitung folgt einem Ritual: Zunächst muss die Kanne mit heißem Wasser gereinigt und erwärmt werden. Dann wird der Tee mit heißem, allerdings nicht siedendem Wasser aufgebrüht. Der erste Aufguss ist nicht trinkbar, erst der zweite Aufguss zählt. Serviert wird das Getränk dann in nur schnapsglas-großen Bechern. Entscheidend für die Qualität eines Tees ist neben dem Geschmack auch sein Duft. Mit unseren parfümierten „Teesorten“, bei denen es sich um nichts anderes handelt als um billigen Ernteausschuß mit künstlichen Aromen, hat der chinesische Tee allerdings wenig zu tun. In China ist Tee zumeist grün. Schwarzer Tee ist eher selten und wird dann als „roter Tee“ (hong cha) getrunken. Und nicht nur die losen Blätter übergießen die Chinesen mit heißem Wasser. Tee kommt oft in Kuchenform – kleine gepreßte Fladen -, von denen je nach Bedarf ein Stück abgebrochen und gemahlen werden kann. Der Teekonsum ist ebenfalls eine Erfindung, die aus der Not geboren wurde. Sauberes Trinkwasser war und ist in den Großstädten Chinas kostbar. Das Abkochen tötet die Bakterien. Die Großstadt Hangzhou hat das Glück, mitten in einem der besten Teeanbaugebiete der Welt zu liegen. Hier wächst der berühmte Drachenbrunnenee (longqing), benannt nach einer Quelle oberhalb der Stadt.

Die Ess- und Trinkkultur der Song-Zeit ist geprägt durch eine neue Sitte. Während bis dato die Speisenden auf Matten auf dem Boden knieten oder auf niedrigen Plattformen die Beine übereinander schlugen, erhöhen die Chinesen nun ihren Sitz und lassen sich auf Stühlen mit starren Lehnen nieder. Ob harte Holzstühle bequemer sind als Matten auf dem Boden sei dahingestellt. Doch Sitten und Gebräuche gehen selten auf Komfort zurück. Während der Herrschaft der Song kommt ein weiterer chinesischer Brauch in Mode, der noch bis ins 20. Jahrhundert hinein die Frauen zu allergrößten Unbequemlichkeiten verdammen soll: das Einschnüren der Füße zu so genannten „goldenen Lotussen“. Hat ein Mädchen das Alter von etwa vier Jahren erreicht, beginnt für sie der Leidensweg. Eng gewickelte Leinenbinden verhindern ein Weiterwachsen des Fußes und verkrüppeln ihre Zehen und Fußknochen auf einen etwa zehn Zentimeter langen Stumpen. Seit dem Tag des ersten Schnürens kann sie sich nur noch mit Trippelschritten fortbewegen. Rennen, Springen, Tollen – all das ist für immer vorbei. Westliche Beobachter dieses Brauches führen ihn oft auf eine sexuelle Vorliebe der Chinesen und die angebliche Erotik des Lotusfusses zurück. Doch wahrscheinlicher ist, dass diese Sitte bei den Tänzerinnen und Konkubinen bei Hofe ihren Ursprung hat. Tänzerinnen müssen sich oft aus Berufsgründen die Füße einschnüren. Vom Hof aus verbreitet sich der Brauch über das gesamte Land – und hält sich hartnäckig für über ein halbes Millenium. Denn für die Mütter ist er von unschätzbarem Wert: Um kleine Mädchen schon früh zu gehorsamen Frauen zu erziehen, ist er äußerst effektiv. Die Mädchen können ab ihrem fünften Lebensjahr das Haus kaum mehr verlassen und beginnen ihre Ausbildung an Textilarbeiten oder in anderen Aufgabenbereichen der Frauen. Das gilt auch für die Frauen der Oberschicht – an ihren Handarbeiten misst sich der Wert eines Mädchens für ihre Hochzeit.

Mit ihrer Fesselung ans Haus schwindet während der Herrschaft der Song auch der Bewegungsfreiraum der Frau in der chinesischen Gesellschaft. Spielten die Palastfrauen in der vorausgegangenen Tang-Zeit noch Polo oder saß gelegentlich gar eine Frau auf dem Kaiserthron, so spielt sich das weibliche Leben nunmehr völlig den Blicken der Öffentlichkeit entzogen ab. Eine Tür zur Außenwelt öffnet sich den Hofdamen noch in Büchern. Bedingt durch die Erfindung des Buchdrucks gibt es genügend Lesematerial, viele Frauen der gehobenen Schichten lernen nun den Umgang mit der Schrift. Sie schreiben Briefe, dichten Verse, entwerfen Bücher – noch heute gilt die Poetin Li Qingzhao (1084- ca. 1151) als eine der bedeutendsten Dichterinnen Chinas. Doch berühmte Frauen sind unter den Song die Ausnahme. Das moralisierende Denken des Neokonfuzianismus stilisiert die Frau zur aufopferungsbereiten Mutter und keuschen Witwe. Im 12. Jahrhundert lassen sich Frauen der Oberschicht nicht einmal mehr direkt von einem Arzt untersuchen. An kleinen Püppchen zeigen sie den Doktoren, wo und wie sie leiden.

So wie wir nicht wissen, wer einst die Mode der Lotusfüsse verschuldete, bleiben für die meisten Erfindungen Chinas die Urheber unbekannt. Nur im Nachhinein bekommt manchmal eine berühmte historische oder auch legendäre Person eine Erfindung zugeschrieben – allerdings eher als Marketingstrategie denn aus wahrer Urheberschaft. Konfuzius soll einst gesagt haben: „shu er bu zuo“ , was so viel bedeutet wie „ich folge und erschaffe nicht“. Die Verbundenheit mit der goldenen Vergangenheit gilt den Chinesen mehr als die Suche nach einer besseren Zukunft. Auch in der Kunst schätzen sie eine möglichst getreue Kopie einer Vorlage häufig höher als ein neues, innovatives Werk. Dabei wäre es falsch, Chinesen als technikfeindlich bezeichnen zu wollen. Vielmehr zeichnen sie sich durch einen großen Pragmatismus aus, in dem sie kaum einen Gedanken an Risiken oder Urheberrechte verschwenden. Ein Unrechtsbewusstsein wie wir es beispielsweise mit dem Raubkopieren von CDs verbinden, stößt bei Chinesen auf Unverständnis. Erste Bemühungen um ein gesetzlich verankertes Urheberrecht in China zieht dann allerdings doch deutsche Rechtsgrundlagen als Vorbild heran. Fälschungen haben in China eine lange Tradition. Und letztlich beruht gerade darin auch die schöpferische Kraft des Landes. Denn nur wer imitiert, kann lernen – und nur wer viel weiß, auch Neues erfinden.

Dieser Text diente als erste Vorlage für eine Fernsehproduktion der Gruppe 5.

Die Webseite der Gruppe 5 ansehen»

Schreibe einen Kommentar