Für ein Abenteuer muss man gar nicht in die Ferne schweifen: Auf der Schwäbischen Alb lässt sich mühelos eine Strecke von 40 000 Jahren zurücklegen.
Die Zeitmaschine ist ein kleiner gelber Kastenwagen. Er steht am Bahnhof des Dorfes Schelklingen – bereit, mich auf die weiteste Reise meines Lebens mitzunehmen. Nicht auf dem Landweg und auch nicht über das Meer, sondern hinein in eine ganz andere Dimension: tief in die Vergangenheit.
Am rechten Ort für meine Zeitreise bin ich bereits angekommen. Hier auf der Schwäbischen Alb, im Urdonautal fünfundzwanzig Kilometer westlich von Ulm, siedelten zu Beginn des Aurignacien – dem frühen Jungpaläolithikum vor etwa 40.000 Jahren – die ersten modernen Menschen. Der europäische Neandertaler hatte zu dem Zeitpunkt seine besten Jahre schon hinter sich. Vielleicht gab es noch einige Exemplare, die durch das Tal streiften. Wahrscheinlich aber hatte er den Schauplatz bereits weitgehend geräumt für den Auftritt unseres Vorfahren: des Homo sapiens sapiens. Auf letzteres deuten fundleere Schichten zwischen den Ablagerungen dieser beiden Menschentypen in Süddeutschland.
Der kleine gelbe Kastenwagen schafft die 40.000 Jahre in fünf Minuten. So lange braucht Rudi Walter, Magister für Urgeschichte, Experimentalarchäologe, Archäotechniker und mein Reiseleiter in die Altsteinzeit, für den Weg vom Bahnhof zu sich nach Hause. Das kleine Haus zwischen dem Penny-Markt und der Heidelberger Cement-AG, einem der Hauptsponsoren aktueller Grabungen in der Region, wird für die nächsten beiden Tage unser Steinzeit-Basislager sein. Von hier aus werden wir die Höhlen an den Steilhängen des Taleinschnittes erkunden, in der kleinen Werkstatt im Garten lagert alles, was wir zum Überleben brauchen: Rentierfelle, Feuerholz – und Steine.
Wie der Name schon vermuten lässt, sind die Brocken unser wichtigstes Gepäck für die Reise in die Steinzeit. Doch sie erweisen sich als äußerst widerspenstig: Mit einem davon auf einen anderen zu schlagen, so dass ein Stück in genau der Form abspringt, mit der sich dann schaben, schneiden oder bohren lässt, ist alles andere als einfach. Im Idealfall sollen rundherum von einer Flintstein-Knolle kleine, schmale Klingen abspringen, bis vom ursprünglichen Stein nur noch ein Kern übrig bleibt. Meine Flintknolle aber ist binnen Minuten völlig zerschlagen und zu nichts mehr zu gebrauchen – außer sie vielleicht nach einem Höhlenbären zu werfen. Rudi kann das wesentlich besser: Mit kurzen Schlägen blättert er Klinge um Klinge von seinem Steinkern. Genug Schneidewerkzeuge für uns beide. Die brauchen wir, um uns der nächsten Aufgabe zu stellen: der Nahrungszubereitung.
In der Welt nebenan beim Penny-Markt ist Fisch rechteckig, hat eine angewachsene Kräuterkruste und liegt sauber abgepackt in Pappschachteln mit der Aufschrift „Schlemmerfilet“. In unserer Welt hingegen ist Fisch schleimig, blutig und gefüllt mit Innereien, die das Fleisch ungenießbar machen, so man sie nicht vor dem Grillen entfernt. Also los: Die Steinklinge am After ansetzen, zum Kopf hin durchziehen und die beiden Hälften aufklappen. Den Wulst der Innereien losschneiden – vorsichtig mit der Gallenblase, die unverletzt bleiben muss – und dann mit dem Fingernagel die Niere ausschaben. Geschafft, das Tier ist leer, jetzt kann sein Bauch mit Kräutern gefüllt werden. Bärlauch, Schnittlauch, Petersilie – vielleicht nicht ganz die Flora, die im Aurignacien zum Forellen-füllen zur Verfügung stand, aber zumindest das, was Rudis Garten hergibt – und lecker allemal.
Jetzt können die Fische noch durchziehen bis zum Abend. Als kleiner Snack zwischendurch erwartet uns vorher aber eine ganz besondere Delikatesse, die Rudi schon filetiert hat: Schwan vom heißen Stein. Zwar ist mir bekannt, dass der indische Gott Brahma einen Schwan als Reittier nutzt, aber dass die großen Vögel auch essbar sind, war mir neu. Und sie sind auch noch ausgesprochen lecker – festes, rotes Fleisch, fast ganz ohne Fett. Im kräftigen Geschmack erinnert es ein wenig an Strauß. Dieses spontane Gourmetmahl verdanken wir dem Straßenverkehr: Den angefahrenen Schwan hat ein Jagdpächter an Rudi übergeben, damit der die Federn, die Knochen und das Fleisch nach allen Regeln der (Steinzeit-) Kunst weiterverarbeiten kann.
Das Wild der Umgebung muss sich in der Regel nicht mehr vor steinernen Speer- und Pfeilspitzen der Experimentalarchäologen fürchten. Denn die heutigen Bewohner des Waldes entsprechen nicht länger dem Beuteschema, wie ihm unsere Vorfahren auf der Schwäbischen Alb folgten. Für das Aurignacien sind in der Hohle Fels-Höhle Funde von Pferdeknochen belegt und vom anschließenden Gravettien – etwa die Zeit vor 30.000 bis 22.000 Jahren – wissen wir, dass bevorzugt Mammut auf dem Speiseplan stand, gefolgt von Pferd und Rentier. Rentier avancierte schließlich in noch späterer Zeit, dem Magdalènien vor etwa 13.000 Jahren, zum meistkonsumierten Fleisch. Gelegentlich ergänzten Hasen und Füchse den Speisezettel. Auch auf Höhlenbären machten die Menschen Jagd. Davon erzählt etwa der Brustwirbel eines Bären, in dem noch die Steinspitze eines Speeres steckt. Gerade in der Winterzeit trafen sich Mensch und Bär: wenn beide auf der Suche nach Schutz vor der Kälte um einen Schlafplatz in den begehrten Höhlen konkurrierten.
Vor dem Abendessen bleibt noch Zeit, eine solche zu besuchen. Mit der Hohle Fels-Höhle in Schelklingen, sowie dem Geißenklösterle und der Sirgensteinhöhle in Blaubeuren/Weiler liegen hier drei bedeutende Fundplätze des frühen Jungpaläolithikums dicht beisammen. Im Aurignacien war das, was wir heute die Schwäbische Alb nennen, ein kulturelles Zentrum Europas. Bereits vor 40.000 Jahren zeichneten sich im Urdonautal Entwicklungen ab, auf die Menschen anderer Regionen noch einige Tausend Jahre warten mussten. Vor allem begann hier, was die Zeit zwischen Jagd und Verzehr der Jagdbeute füllte: die Kunst. In der Hohle Fels-Höhle entdeckten Archäologen Skulpturen aus Mammutelfenbein, die zu den ältesten figürlichen Kunstwerken der Menschheit zählen: ein Pferdekopf, ein Wasservogel und ein Löwenmensch, alle nur wenige Zentimeter groß. Mit der Radiokarbonmethode bestimmten die Wissenschaftler ihr Alter auf über 30.000 Jahre. Im Museum von Ulm ist der 30 Zentimeter große ãBruderÒ des Höhlenlöwen zu sehen, der aus der Höhle Hohlenstein-Stadel im Lonetal stammt. Vielleicht stellt er eine Figur aus der im Aurignacien praktizierten Religion dar: etwa einen „Wer-Löwen“ oder einen Schamanen – Akteure aus Riten oder Legenden, die lange vergessen sind.
Ihren Technologievorsprung konnten die Menschen im Urdonautal auch im Gravettien aufrechterhalten. Sie perfektionierten die Herstellung von Steinwerkzeugen und schufen innovative Formen. Eine neue Erfindung waren die so genannten Rückenmesser – kleine, regelmäßige Lamellen, deren eine Kante durch sorgfältige Bearbeitung abgestumpft ist. Doch nicht nur aus Steinen fertigten sie Arbeitsgerät, sondern auch aus organischem Material. Ein besonderes Gerät ist eine „Hacke“ aus Rentiergeweih, die aus der Hohle Fels-Höhle stammt. Schmuckfunde kommen jetzt häufig vor, hauptsächlich flache, tropfenförmige Anhänger aus Elfenbein, die – was Produktionsabfälle belegen – in der Hohle Fels-Höhle und im Geißenklösterle hergestellt wurden.
Die Hohle Fels-Höhle ist mit 500 Quadratmetern Grundfläche und 6000 Kubikmetern Rauminhalt eine der größten Höhlen der Schwäbischen Alb – und bereits wenige Schritte hinter dem Eingang wird es stockfinster. Wie haben die paläolithischen Bewohner diese Halle beleuchtet? Zwar lässt sich Feuer sowohl hüten als auch transportieren. Für Menschen, die auf Grund ihrer Lebensweise jedoch flexibel und schnell sein müssen, sind beide Möglichkeiten jedoch wenig praktikabel. Ein kleines Beutelchen mit Pyrit und Zunderschwamm birgt die Lösung. Anfangs noch etwas zögerlich, dann aber mit wachsender Begeisterung schlage ich mit dem glitzernden Klumpen auf einen großen Feuerstein. Im Dunkel der Höhle stieben die Funken zu allen Seiten. Der Zunder, ein getrockneter Baumpilz, der sich zwischen den Fingern wie Filz anfühlt, saugt sie gierig auf und beginnt zu glimmen. Nur dreißig Sekunden vom ersten Schlag bis die Rauchfahne aufsteigt – und ich freue mich über die dünne Rauchsäule wie ein Pyromane über ein brennendes Reetdachhaus.
Brennt das Feuer dann vor sich hin, lässt es sich auch in die tiefen Winkel der Höhle hineintragen – zum Beispiel mit Steinlampen. Die flachen Steine mit einer mehr oder weniger natürlichen Vertiefung liegen schwer in der Hand. Sie sind gefüllt mit Talg, in dem ein Docht aus Wacholderrinde steckt. Das Prinzip funktioniert zwar ausgezeichnet, aber die kleine Flamme reicht gerade aus, um entweder den Füßen auf dem unebenen Grund zu leuchten – oder dem Kopf, um sich nicht die Stirn an Felsvorsprüngen blutig zu schlagen. Schnell wird mir klar: Meine Augen würden in dieser Umgebung versagen. Einen dunkelbraunen Höhlenbären in einer schattigen Nische könnte ich vielleicht gerade noch am schweren Atem ausmachen – wenn er nicht schon längst eher mich hätte atmen hören.
Die Akustik in der Höhle ist hervorragend. Wir lassen Schwirrhölzer kreisen – ihr heiseres Schnurren bringt die Luft zum Vibrieren. Der Ton, den die ovalen Hölzer beim Schleudern an einer gedrehten Schnur erzeugen, galt in der Vergangenheit bei vielen Völkern als Stimme der Geister oder Ahnen. Die Steinzeit-Menschen auf der Schwäbischen Alb kannten Schwirrhölzer ebenso wie die Azteken, auch Navajo und Hopi sowie die Maori nutzten sie. Noch heute gilt ihr Klang in den Weiten Australiens den Aborigines als heiliger Ruf. Was glaubten die Menschen des Aurignacien, als sie vor vielen Tausend Jahren eben diesen Ton in dieser Höhle erzeugten? Hörten Sie darin die Stimmen der Ahnen? Im flackernden Licht der Steinlampen würde es mich nicht wundern, wenn aus den Schatten plötzlich urtümliche Steinzeitgeister hervorträten, angelockt von dem Laut, der sie seit Ewigkeiten nicht mehr rief.
Mittlerweile ist es Zeit geworden, einen Schlafplatz zu suchen. Wir ziehen um zur Brillenhöhle. Ich bin froh, dass es inzwischen so dunkel ist, dass der Abgrund im Dämmerlicht verschwindet – meine Höhenangst flackert nur einmal kurz auf, als sich beim Aufstieg unter meinem Turnschuh eine kleine Steinlawine löst. Einmal auf dem Vorsprung knapp unterhalb des Höhleneingangs angekommen bin ich aber sofort versöhnt. Das kleine Portal ist der ideale Platz für eine Nacht in der Steinzeit: geschützt durch die hohe Wand im Rücken und mit Panoramablick auf das Tal.
Ich versuche mich an Feuertechnik Nummer zwei, dem Feuerbohrer. Ein Stock wird in eine Sehne eingespannt und mit Hilfe einer Art „Geigenbogen“ in ein Brett gedrillt. Die Reibung bringt den abgeriebenen Holzstaub zum Glimmen, der wiederum ein Häufchen leicht brennbare Distelsamen entzündet. Doch was in der Theorie recht einfach klingt, ist in der Praxis harte Arbeit. Bis mir endlich der Stock nicht mehr verrutscht und sich die Sehne nicht mehr verhakt sind meine Arme lahm. Dann: die erste Glut. Die muss nun sorgsam mit Sauerstoff und trockenem Gras gefüttert werden, um zu einem richtigen Feuer zu wachsen. Zu früh gefreut – Minuten später verhungert mir das erste Glühen in einer Handvoll Heu. Rudi war derweil erfolgreicher und bald garen unsere beiden Forellen vor sich hin – eine am Stock, die andere in Kohlblätter gewickelt in der Asche. Als Salz noch Mangelware war, bildete Asche eine wichtige Ersatzquelle für Mineralsalze. Was uns heute unangenehm zwischen den Zähnen knirscht war im Jungpaläolithikum ein „Gewürz“, um das Fleisch zu veredeln. Unsere „Forellen auf zweierlei Art“ schmecken jedenfalls ausgezeichnet. Was braucht man mehr zum Glücklichsein als ein Lagerfeuer und einen gegrillten Fisch am Ende eines langen Tages?
Vielleicht ein bisschen Musik. So dachten zumindest unsere Vorfahren, wie der Fund einer etwa 36 000 Jahre alten Flöte aus dem Flügelknochen eines Schwans in der Geißenklösterle-Höhle belegt. Sie gilt als das älteste Instrument weltweit. Rudi hat so eine Flöte nachgebaut, und hier macht sich der Blockfötenunterricht meiner Jugend bezahlt – es kommen tatsächlich Töne aus dem fragilen Röhrchen. Ganz zart und rein klingen sie, als wollten die Noten an das weiße Tier erinnern, aus dessen Knochen das Instrument geschnitzt ist.
Als das Lagerfeuer langsam niederbrennt wird es kalt vor der Höhle. Ich bin froh, meinen Thermoschlafsack mit in die Steinzeit geschmuggelt zu haben, zusammen mit einer dicken Unterlage aus Fellen bin ich so gegen die Kälte gewappnet. Rudi schlüpft in seinen Rentierfell-Schlafsack, den eine Sami-Frau in Lappland genäht hat. Beschweren will ich mich nicht, denn wir haben Glück mit den Temperaturen: Im Jahr 2004 herrscht noch vergleichsweise mildes Klima. Zu der Zeit, als die Brillenhöhle noch permanent bewohnt war, währte in Europa die letzte Eiszeit, die so genannte Würm/Weichsel-Kaltzeit. Die Gletscherzungen des skandinavischen Inlandeises reichten damals bis kurz vor die Tore dessen, was einst Hamburg werden sollte, und die globale Mitteltemperatur lag etwa vier Grad unter dem heutigen Duchschnittswert. Dank der Kälte ist der Abend sternenklar. Oben am Himmel leuchtet der Große Wagen. Tief unten schlummert das Zementwerk. Gute Nacht, Urdonautal…
Am nächsten Morgen wecken mich die Vögel und das gleichmäßige Frühverkehrsrauschen auf der Bundesstraße neben dem Flusslauf. Wir rollen Schlafsäcke und Felle zusammen, sammeln Steine und Stöcke ein und tragen die Bündel hinunter zu dem gelben Kastenwagen. Die Eiszeit war in der Tat gar nicht so weit weg: Auf der Windschutzscheibe sind über Nacht dicke Frostblumen erblüht. Wir fahren zurück ins Basislager, voller Vorfreude auf eine dampfende Tasse Kaffee, mit der Rudis Frau Cony schon auf uns wartet.
Zum Kaffee gibt Rudi noch eine Demonstration der hohen Schule des Steinzeitkochens: die Zubereitung des Frühstückseis. Dafür legen wir eine Mulde im Boden mit einem frisch abgezogenen Fell aus. Einige große Steine auf dem Fellrand fixieren den steinzeitlichen Kochtopf. Mit heißen Steinen aus dem Lagerfeuer lässt sich das Wasser in der Mulde zum Sieden bringen – und das Ei wäre nach dreieinhalb Minuten auf einem konventionellen Herd auch nicht perfekter auf den Punkt gegart. Mit etwas Übung der alltäglichen Techniken könnte ich mich an das Leben hier im Jungpaläolithikum gewöhnen. Doch auf mich wartet die Redaktion. Ich muss zurück nach Heidelberg, um von dieser Reise erzählen zu können.
Die Zeitmaschine zurück in die Gegenwart ist groß, silbergrau und hat in roten Buchstaben ICE auf die Seite gemalt. Obwohl viele Berufsreisende zwischen Stuttgart und Mannheim unterwegs sind, bleiben die Plätze um mich herum seltsam leer. Vielleicht liegt es an dem Geruch nach Lagerfeuer und Fisch, der mir noch in den Haaren hängt? Oder an den Resten der Forellenniere und den Ascherändern unter meinen Fingernägeln? Irritiert zupfe ich kleine Häufchen Rentierhaare von meiner Hose und lächle freundlich den Anzugmenschen entgegen. Sie können ja nicht wissen, dass ich gerade von der weitesten Reise meines Lebens zurückgekommen bin.
Reiseorganisation:
Rudi Walter kann man als Reiseleiter in die Steinzeit auch für Klassenfahrten und Gruppenausflüge mieten, auf Anfrage kommt er auch an interessierte Schulen und Museen.
Kontaktadresse:
„Urgeschichte hautnah“
Am Manzbühl 1
89601 Schelkingen
07394/27 45
info@urgeschichte.net
www.urgeschichte.net
Erschienen in Abenteuer Archäologie 03/2004.