Anatomie einer Grenze

Am 9. November 1989 tanzten die Menschen auf der Berliner Mauer. Heute, nur 14 Jahre später, ist sie bereits ein Fall für die Archäologie.

Im Juni beginnt die Fetthenne zu blühen. Dann windet sich einmal rund um Westberlin ein lockerer gelber Zopf wie eine Blumenkrone. Der Streifen bildet mit der Architektur der Stadt ein dichtes Geflecht, ist oft unterbrochen von Straßen, Plätzen, Häusern. Doch immer wieder lugt der Blütenkranz hervor zwischen wuchernden Beton- und Stahlbauten. Das Band aus hell blühender Fetthenne ist eine Erinnerung. Ist das florale Negativ einer längst vergangenen Mauer. Der Mauer. Denn das genügsame Dickblattgewächs ist eine der wenigen Pflanzen, die resistent ist gegen die Herbizide, mit denen 28 Jahre lang der Todesstreifen getränkt wurde. Damit dort kein Grashalm wächst, kein Laub zu Boden fällt, nichts die Fußspuren eines Flüchtlings tarnen könne. Damit kein Strauch und kein Baum ihm Deckung sei.

Vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 war Westberlin von jener Mauer umschlossen. Auf 155 Kilometer Länge war die Stadt in den eisernen Vorhang gehüllt. Auf der einen Seite war der Osten, auf der anderen der Westen. Hier erreichte der Kalte Krieg seine tiefsten Temperaturen, hier standen sich die Panzer Rohr an Rohr gegenüber. Übrig ist von der Mauer heute so gut wie nichts mehr. Damit rückt sie nur 14 Jahre nach ihrem Fall bereits in den Zuständigkeitsbereich der Archäologie.

Der Archäologie? Ist nicht über kaum ein Monument mehr geschrieben worden als über die Mauer? Füllte sie nicht jahrzehntelang die Seiten von Büchern und Zeitungen als Bestandteil des gelebten Alltags ebenso wie der gelebten Geschichte? Zweifellos: Nur wenige Monumente der Zeitgeschichte wurden subjektiver wahrgenommen – und damit auch subjektiver dokumentiert – als die Mauer. Für die Oberen der DDR war sie der „Antifaschistische Schutzwall“. Für den Westen ein von der Regierung gesponsortes Ausflugsziel für Schulklassen, be-greif-bares Zeugnis der Boshaftigkeit Moskaus. Doch so unwahrscheinlich es auch klingen mag, was sie wirklich war, wurde im Detail nirgendwo festgehalten: eine komplizierte Abfolge von Bauteilen und Zonen, die jeweils einen ganz spezifischen Zweck erfüllten. Hätte ein Historiker der Zukunft die Aufgabe, die Berliner Mauer allein auf Grund der schriftlichen Überlieferung zu rekonstruieren, er wäre zum Scheitern verurteilt. Für welche Interpretation er sich auch entscheiden würde, sie wäre nicht das genaue Abbild des Monumentes, wie es in Berlin stand.

Ein Beispiel: An den wenigen noch stehenden Lichtmasten, die einst den Todesstreifen in grelles Flutlicht tauchten, ist eine rot-weiß-grün-weiße Farbmarkierung aufgemalt. Selbst bei einigen Masten, die später übertüncht wurden und heute als Straßenlaternen dienen, frisst sich diese Markierung in rostigen Bläschen durch die neue Farbschicht hindurch. Jedoch keine Aufzeichnung beschreibt diesen Farbcode, nie hat er Eingang in die Dokumente gefunden. Dabei markiert er eine besonders sensible Nahtstelle der Anlage: die vordere Postenbegrenzung. Überschritt ein Soldat diese imaginäre Linie ohne -Vorankündigung, so lief er Gefahr, selbst als Republikflüchtling identifiziert und erschossen zu werden. Die sporadisch stehen gebliebenen Lichtmasten und die Erinnerung ehemaliger Grenzsoldaten sind das einzige Zeugnis.

Um zu dokumentieren, was der Geschichte sonst verloren gehen würde, hat jetzt der Berliner Senat Leo Schmidt um Hilfe gebeten. Schmidt ist Professor für Denkmalpflege an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Mit archäologischen Methoden untersucht er, was einst stand und was heute noch steht. Auf seinen Streifzügen (Surveys genannt) durch die Großstadt spürt er die verborgenen Reste auf. Dabei unterscheiden sich seine Funde auf ersten Blick gar nicht so sehr von dem, was die Kollegen in den antiken Ruinen Griechenlands oder Italiens entdecken. Manchmal ragt im dichten Gebüsch einer Hecke gerade noch der glatt abgesägte Stumpf eines Stahlträgers aus dem Boden, so unscheinbar wie das Pfostenloch eines bronzezeitlichen Hauses. Oder unter einer Schicht aus dürrem Gras und losem Laub zeichnet sich der Sockel eines Betonpfeilers ab, gleich der Basis einer Marmorsäule von einem griechischen Tempel. Was Schmidt auf seinen surveys findet, wird sorgfältig dokumentiert, katalogisiert und interpretiert.

Die spärlichen Überbleibsel werden allerdings von Tag zu Tag weniger – ausgehoben für ein neues Fundament, überplaniert für eine neue Straße oder einfach nur weggeräumt. Schmidt unterscheidet für seine Dokumentation noch einmal zwischen „Resten“, also sichtbaren Teilen der ehemaligen Maueranlage, und „Spuren“ – Negativabdrücken wie Vegetationsstörungen, die nur noch verraten, dass an der entsprechenden Stelle einmal ein Objekt stand. Als Vergleich dienen Satellitenbilder der Mauer, aufgenommen vom amerikanischen Militär. Die können aber nur jeweils Momentaufnahmen der Mauer wiedergeben. Von baulichen Veränderungen über einen Zeitraum hinweg oder auch von den verwendeten Materialien, kann nur der Boden selbst erzählen.

Das Wenigste, was Schmidt bei seiner Suche findet, war wirklich Mauer. Die bunt bemalte Betonwand, auf welche die westliche Welt schaute, bildete nicht mehr als das Gesicht der Grenzanlage, das Letzte in einer tief gestaffelten Folge von Hindernissen – im offiziellen Sprachgebrauch der DDR das vordere Sperrelement. Der Körper jener Grenzanlage jedoch reichte fünfzig bis siebzig Meter in das Stadtgebiet Ostberlins hinein, je nach Geländesituation. Das Ganze bestand zu dem Zeitpunkt, an dem die Mauer letztendlich fiel, aus 106 Kilometern vorderem Sperrelement, abgelöst von oder ergänzt mit einem Metallgitterzaun auf 67 Kilometern, vor allem außerhalb des bebauten Stadtbereichs, dahinter einem Kontrollstreifen, auf 124 Kilometern der Kolonnenweg, meist sechs bis sieben Meter breit mit Lichttrasse, einem breiten Freistreifen mit 302 Beobachtungstürmen und Führungsstellen sowie zwanzig Bunkern, einem Grenzsignalzaun und schließlich der Hinterlandmauer auf zwölf Kilometern als Sichtblende (Grafik S. 79). 43,1 Kilometer der Grenze lagen auf dem Stadtgebiet Ost-Berlins, 111,9 Kilometer auf dem Boden der DDR.

Dieser Aufbau stellte die so genannte vierte Generation einer mehrmals verbesserten Abfolge von Grenzhindernissen dar. Eine neue Generation wurde jeweils unmittelbar hinter ihrem Vorgänger errichtet, da man nicht riskieren wollte, vorübergehend ein Loch in der Grenze zu erzeugen. Von Osten her konnte man selbst die Hinterlandmauer nur in unvermeidbaren Fällen wahrnehmen. Sie verbarg sich zumeist hinter der Vorfeldsicherung, einem unregelmäßigen Streifen, der von Grenzposten kontrolliert und nur schwer zugänglich war. Da dieses Gelände in weiten Teilen verwilderte, ist die Vorfeldsicherung heute stellenweise in Kleingärten aufgegangen. Archäologisch ist sie – obwohl ebenso ein Bestandteil der Anlage wie das prominente vordere Sperrelement – kaum mehr nachweisbar.

Worauf der Westen schaute, war etwas völlig anderes: Der graue Beton des vorderen Sperrelements reflektierte lediglich den Umgang der westlichen Welt mit der Mauer – er war die Leinwand für Kritik, Schmerz, Wut, aber auch Wünsche und Hoffnungen. Die blieben zwar an der Mauer haften, drangen jedoch nicht durch den Beton auf die andere Seite. Die Mauer spiegelte die Botschaften zurück an den Absender. Der DDR-Regierung war dies nur Recht. Die bunten Graffiti machten die Mauer unsichtbar. Das vordere Sperr-element verschwand hinter den Spraydosengemälden. Bezeichnenderweise wurde nach dem Fall der Mauer vor allem diese sichtbare vordere Begrenzung abgerissen, mit der der Begriff Berliner Mauer assoziiert war wie mit sonst keinem anderen Element. Während Teile dieses äußeren Segments dem Fleiß der Mauerspechte zum Opfer fielen und auf dem internationalen Kunstmarkt hohe Preise erzielten, steht die Hinterlandmauer heute noch auf weiten Strecken unverändert in der Landschaft.

Gerade in den ersten Generationen wurde zum Bau der Mauer verwendet, was an Material bereits vorhanden war. Vieles, was im Rahmen des ehrgeizigen Wohnungsbauprogramms der DDR großzügig produziert wurde, ließ sich leicht zur Sperre umfunktionieren. Hohlblockelemente und Betonbalken waren ursprünglich Halbfertigteile für Häuser. Deckenplatten aus massivem Beton wurden zu Fahrzeugsperren. Aus dem Straßenbau stammten Lochplatten, die einmal Abdeckungen für Straßen und Parkplätze hätten werden sollen. Selbst die frei stehenden Betonelemente der vierten und letzten Generation, die sich mit ihrer Glätte und 3,60 Meter Höhe als Leinwand geradezu anboten, waren nicht als Berliner Mauer konstruiert worden. Bei der Grenzmauer 75, wie sie nach ihrem Errichtungsjahr genannt wurde, handelte es sich um in der Landwirtschaft eingesetzte Bauelemente des Typs UL 12.41, bekrönt mit einem zweckentfremdeten Abwasserrohr von vierzig Zentimeter Durchmesser.

Die Verwendung der Elemente UL 12.41 beruhte allerdings nicht auf Willkür. Im März 1974 war auf einer Wiese in Neu-Zittau bei Berlin Seltsames zu beo-bachten. Dort attackierten sportlich trainierte Personen ein hundert Meter langes, frei stehendes Stück Mauer – mit allen nur erdenklichen Werkzeugen. Seile zum Überklettern, Schaufeln zum Untergraben, Hammer und Brechstangen zum Zermürben – ja sogar Kleinlaster mit Geschwindigkeiten von zehn und dreißig Kilometern pro Stunde und geringe Mengen Sprengstoff kamen zum Einsatz. Zweck der Mühen war, sich zwischen den beiden Betonelementen UL 12.41 und QT 1.1 zu entscheiden. Der Gewinner dieses Wettbewerbs um „Unkaputtbarkeit“, UL 12.41, wurde zum Baumaterial der neuen Grenzmauer 75. In der Landwirtschaft fanden beide Teile weiterhin Verwendung. Noch heute sieht man auf den Geländen ehemaliger Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften sowohl QT-1.1- als auch UL-12.41-Stützwände stehen.

Ebenso wie die Mauer selbst sind auch die Wunden, die sie in das Stadtbild riss, heute Teil deutscher Geschichte und archäologisch fassbar. Die Brutalität, mit der alte Strukturen vernichtet wurden, demonstriert die Macht des Regimes. Prominentestes Beispiel ist der Potsdamer Platz, der vor allem in der Zeit vor der Teilung der Stadt – und in geringerem Umfang auch noch bis zum 13. August 1961 – ein rege befahrener Knoten- und auch ein gesellschaftlicher Treffpunkt war. Die Erbauer der Mauer scherten sich allerdings nicht um gesellschaftliche Bedeutung oder bauliche Beschaffenheit des Platzes. Die Grenzanlage durchschnitt die zentrale Verkehrsinsel und die Straßenbahngleise. An anderer Stelle, in der Bernauer Straße, verlief die Grenze entlang der Häuserfassaden, die in der ersten Generation selbst zum Bestandteil der Mauer wurden. Hier spielten sich in den Augusttagen 1961 dramatische Szenen ab. Bevor die Grenztruppen die Fenster der oberen Stockwerke zumauern konnten, sprangen etliche Menschen verzweifelt in die Tiefe. Nicht alle überlebten. Später wurden die Häuser abgerissen und über 2000 Bewohner umgesiedelt.

In der Bernauer Straße stand auch die Versöhnungskirche, mitten im Todesstreifen, unzugänglich für die Gemeindemitglieder. Sie wurde 1985 gesprengt, vier Jahre vor dem Fall der Mauer. Wie vor der Kirche machte die Mauer auch vor dem Friedhof nicht halt. Ein Geländestreifen des Sophienfriedhofs wurde für den Ausbau der Grenzanlagen enteignet und profanisiert. Dass die Leichen schließlich exhumiert und umgebettet wurden, ist vor allem den Ängsten der jungen Grenzsoldaten zu verdanken, die nur äußerst unwillig nachts auf einem Friedhof patrouillierten. An der Niederkirchner Straße fanden schon unmittelbar nach der Wende archäologische Ausgrabungen statt. Hier hatte die Mauer direkt über dem Keller der ehemaligen Kunstschule gestanden, deren Gebäude unter Hitler zum Reichssicherheitshauptamt gehört hatte. Die Kellergewölbe wurden 1990 freigelegt und beherbergen heute eine provisorische Ausstellung.

Was sich archäologisch besonders gut dokumentieren lässt, ist das, was diese Grenze einmalig macht: ihre Ausrichtung. Es ist die einzige Mauer der Weltgeschichte, die dazu gebaut wurde, Menschen am Verlassen eines Landes zu hindern. Diese Einsicht scheint uns heute banal zu sein. Wir haben unser Gedächtnis. Wir kennen die Bilder wie die des schwer verwundeten Peter Fechtner, der am 17. August 1962 bei einem Fluchtversuch an seinen Schussverletzungen verblutete. Aber wir sind die letzte Generation, in deren Erinnerung diese Bilder noch lebendig sind. Die Generationen nach uns werden vergessen: Jahr um Jahr, Fakt um Fakt.

Vielleicht wird es nicht einmal gelingen, jemals alle Fakten zusammenzutragen. Was bleibt, sind Schätzungen. Dazu erklärt das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin: „Insgesamt gelang es weit mehr als 5000 Personen, sog. Mauerbrechern, die Mauer zu überwinden; mehr als 3200 wurden bei den Fluchtversuchen festgenommen und in der Regel zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Weit über 100 Menschen wurden bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden, getötet, mehr als 200 durch Schusswaffengebrauch verletzt. Wegen der strengen Geheimhaltung, der diese Vorgänge in der DDR unterlagen, sind die Forschungen, die über genaue Zahlen Aufschluß geben könnten, noch nicht abgeschlossen.“

Ein emotional so belegtes Monument wie die Berliner Mauer ist extrem anfällig für Legendenbildung. Daher sind ihre materiellen Reste so wichtig; sie allein können einer historischen Verzerrung entgegenwirken. Nicht alle teilen diese Meinung. In einer Mitteilung des Berliner Abgeordnetenhauses vom Juni 1992 heißt es: „Wenn ein Herrschaftssystem verfällt oder gestürzt wird, verlieren die von ihm geschaffenen Denkmäler, soweit sie der Legitimation und Festigung des Herrschaftssystems dienten, grundsätzlich ihre Existenzberechtigung.“ Wenn auch unter anderen Vorzeichen, so klingen diese Worte doch wie das beklemmende Echo von George Orwells Zukunftsvision 1984: „Aus der Architektur konnte man Geschichte ebenso wenig lernen wie aus Büchern, Statuen, Inschriften, Gedenksteinen, Straßennamen – alles was Licht auf die Vergangenheit werfen konnte, war systematisch verändert worden.“

Die archäologischen Reste sprechen eine deutliche Sprache, sie lügen nicht, vertuschen nicht und vergessen nicht. Sie sagen nicht „Antifaschistischer Schutzwall“. Der Stacheldraht des elektrischen Signalzauns neigte sich gen Osten, also den potenziellen Republikflüchtlingen entgegen. Auch die Kfz-Sperre der dritten Mauergeneration machte nur Sinn, wenn eine Flucht Richtung Westen verhindert werden sollte. Sie senkt sich nämlich nach Westen hin ab und wäre für einen „faschistischen Eindringling“ kein ernst zu nehmendes Hindernis gewesen. Viele der jungen Grenzer waren bei Dienstantritt vom tatsächlichen Aussehen der Grenze überrascht. Auch wenn niemand den Hetztiraden der DDR-Regierung Glauben schenkte, waren doch viele schockiert, dass sich die Todesmaschinerie der Grenze so offensichtlich gegen das eigene Land richtete. Überaus sorgfältig wurden diese Truppen daher auch von anderen Informationen abgeschirmt und einem ständigen Propagandafluss ausgesetzt, der für sie die Illu-sion einer akuten Bedrohung durch die Westmächte aufrechthielt. Am Beispiel der Berliner Mauer lässt sich die Nützlichkeit der Archäologie als Werkzeug zur Wiedergewinnung geschichtlicher Information sehr eindrucksvoll demonstrieren. Es zeigen sich aber auch die Punkte, an denen sie an ihre Grenzen stößt. Wie soll man beispielsweise die 1163 Wachhunde nachweisen, die im Jahr 1985 rund um Berlin im Einsatz waren? Und doch waren sie integraler Bestandteil der Grenze. Nach der Wende mussten im Übrigen viele der insgesamt rund 3000 an der innerdeutschen Grenze eingesetzten Hunde eingeschläfert werden. Da die aggressiven Tiere als Haustiere ungeeignet waren, konnten sie nicht bei Privatleuten unterkommen.

Auch die Planungen zum Bau der fünften Mauergeneration sind ein politisches Zeugnis, das archäologisch nicht greifbar ist. Im „Vorschlag für Festlegungen für die Weiterführung der Arbeiten zur Bestimmung der Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit von Grenzsicherungsanlagen an der Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu BERLIN (WEST) in den Jahren 1991-1995/2000“ vom 9. März 1989 heißt es: „Die Forschung und Entwicklung ist mit dem Ziel zu führen, die vorhandenen Grenzsicherungsanlagen zu modernisieren und mit Ergänzungsgeräten zu komplettieren sowie für den Zeitraum bis 1995 die Grenzsicherungsanlage 90 als Nachfolgegeneration für die vorhandenen Anlagen zu entwickeln und ab 1996 schrittweise einzuführen.“ Besonderes Augenmerk verdienen die im „Vorschlag“ erwähnten Ergänzungsgeräte. Dabei handelt es sich um Sensoren, Vibrationsmelder, seismisches Signalgerät, Infrarot- und Mikrowellenschranken sowie allerlei andere technische Errungenschaften, deren Anschaffungswert kaum im Verhältnis zu ihrem Zweck stand. Als am 20. November 1989 Bilanz gezogen wurde, beliefen sich die Kosten für bis -dahin errichteten Grenzsicherungsbauten bereits auf die Summe von 869,9 Millionen D-Mark.

Wohl jeder Berlin-Tourist fragt: „Wo ist die Mauer?“ Doch trotz ihrer Bedeutung für die deutsche sowie für die Weltgeschichte kann man ihm kaum noch aussagefähige Relikte zeigen. Die Mauer verschwand schnell – aus vielen Motiven. Zu groß war die Lust am Niederreißen in den Tagen nach der Wende, zu verlockend waren die Aussichten auf exklusiven Baugrund im Herzen der Stadt.

Was bleibt, sind eine Hand voll weit über das Stadtareal verstreuter Reste, entweder verschämt mit rostigen Metallzäunen vom Stadtbild abgeschirmt wie am Gelände des Nordbahnhofs oder rekonstruiert und zusammengeklaubt wie amCheckpoint Charlie. Für Berliner wie für Deutsche in Ost und West ist dieses Verschwinden noch nicht einmal verwunderlich. Täter und Opfer haben ein und dasselbe Ziel: Nichts soll an die Schrecken der Vergangenheit erinnern. Der ausländische Tourist aber betrachtet solche Nichtexistenz materieller Zeugnisse mit Erstaunen. Außerhalb Deutschlands weckt der Begriff Berliner Mauer nämlich durchaus positive Assoziationen. In London, Paris oder New York denken die Menschen vor allem an den Fall der Mauer, an die Wende also, an die gewaltfreien Demonstrationen des Spätherbstes 1989, an den Sieg über ein totalitäres Regime mit friedlichen Mitteln. Beide Aspekte – das Grauen wie sein Ende – sind Teil ihrer – unserer Geschichte.

Erschienen in Abenteuer Archäologie 1/2004.