„Die anatolische Bahn wird ja augenblicklich von der deutschen Presse, die ja sonst so wenig hat, in den Himmel gehoben. Aber als Geschäft? Du lieber Himmel! Da bleibt sie immer eine Nebensache wie der Club der Harmlosen. (…) Diese Bahn selbst ist nur ein toter Strang, und die Begeisterung seiner Majestät für Mesopotamien ist ohne tieferen Wert für die deutschen Interessen“, schrieb am 26. November 1899 Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, an seinen Schwiegersohn. Als er diesen Brief schrieb, konnte er allerdings nocht nicht ahnen, was 1902 links und rechts der Schienen entdeckt werden würde. Die Bagdadbahn fuhr quasi über einen unterirdischen See aus Erdöl. Zehn Jahre nach dieser Entdeckung erhielt die Deutsche Bank vom türkischen Sultan eine Konzession auf alle Öl- und Mineralvorkommen entlang eines 20 km breiten Streifens zu beiden Seiten der Bahnlinie bis Mosul. Von dort sollte das mesopotamische Öl nach Deutschland gebracht werden, somit die mögliche britische Seeblockade umgangen werden und für Deutschland eine unabhängige Erdölversorgung auf dem Landweg entstehen. Es galt, um seinen Teil des Kuchens bei der Neuaufteilung der Welt zu kämpfen. „Was die heutige Türkei betrifft, so haben wir uns schleunigst zu sichern, was andere Völker uns sonst vor der Nase wegschnappen könnten und was in einigen Jahren hohe Preise haben dürfte. Nachdem das deutsche Volk auf Marokko verzichtet hat, sollte es sich mit allen Kräften der asiatischen Türkei zuwenden, um bei deren demnächstiger unausbleiblicher Aufteilung nicht noch einmal leer auszugehen“, beschrieb 1913 Ewald Banse in seinem Werk „Auf den Spuren der Bagdadbahn“ die Kolonialgelüste der Deutschen.
Die Bagdadbahn war im Gerangel der Kolonialmächte wie das Rückgrat der riesigen Landmasse zwischen Europa und dem persischen Golf. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Briten den Bau einer Eisenbahn in Erwägung gezogen, um den Warenaustausch zwischen ihrer indischen Kolonie und dem Königreich zu vereinfachen. Für Deutschland stand die Motivation im Vordergrund, eine Achse Berlin-Bagdad zu errichten, was natürlich zu heftiger Besorgnis bei den Briten führte. Denn so würde ein riesiges zusammenhängendes Gebiet entstehen, das durch keine Seemacht angreifbar wäre und Rußland würde durch diese Achse von seinen Verbündeten England und Frankreich abgeschnitten. Für den türkischen Sultan Abdul Hamid war die Bagdadbahn gerade deshalb das geeignete Mittel, die Dominanz Englands, Frankreichs und Rußlands in der Region zu schwächen. Der deutsche Diplomat Mühlberg erklärte mit einfachen Worten, die Kunst sei es, sich „mit einer Verbeugung vor dem britischen Löwen und einem Knicks vor dem russischen Bären allmählich bis zum persischen Golf hinabzuschlängeln.“
Die Verbeugung vor dem britischen Bären war jedenfalls nicht tief genug. Zwar gab es Bemühungen, England in die Finanzierung der Bahn mit einzubinden, aber lediglich um die immens hohen Kosten zu decken und als „die politische Neutralisierung des Bagdadbahnunternehmens unter voller Aufrechterhaltung der deutschen Führung“, wie Karl Helfferich, Direktor der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Staatssekretär und stellvertretender Reichskanzler, es ganz unverblümt ausdrückte. Der Plan ging nicht auf. England sah keinen Sinn darin, sich an diesem Projekt zu beteiligen.
Als der erste Weltkrieg ausbrach, waren von 2165 geplanten Streckenkilometern gerade erst 887 in verschiedenen Teilstücken fertiggestellt. Genug, um zumindest den Türken von großem Nutzen zu sein. Auf den Schienen ließen sich weitaus schneller als auf herkömmlichen Verkehrswegen ganze Truppenteile von einem Ende des riesigen Reiches zum anderen verlegen. Und auf den sogenannten „Hammelwagen“ deportierte man, zusammengedrängt wie die Tiere, unliebsame Armenier zum Sterben in die Wüste. Tatsächlich ging an vielen der deutschen Angestellten der Bagdadbahn dieser Völkermord nicht unbemerkt vorbei und sie versuchten, mit Briefen und Dokumentationsfotos die Aufmerksamkeit der deutschen Behörden auf das Geschehen zu lenken. Gerade Franz Günther, von 1911 bis 1914 Vizepräsident der Anatolischen Eisenbahn-Gesellschaft, setzte sich immer wieder aufs neue für die Armenier ein. Doch die Bemühungen waren vergeblich. Zu wichtig war die Türkei als Bündnispartner für die Deutschen, um mit Kritik an der Armenierpolitik den Unwillen des Sultans zu riskieren.
Vergessen sind heute die diplomatischen Verwicklungen. Vergessen der Traum des letzten deutschen Kaisers von der Eroberung des Orients. Verschlafen quälen sich jedoch noch heute die Waggons über Hochebenen und durch tiefe Täler. Der Weg, den sie nehmen ist alt und historisch bedeutend war er schon lange bevor die Eisenbahn auch nur erfunden wurde. Am 10. Juni 1190 ertrank unweit von Hacikiri, nur wenige Meter vom heutigen Verlauf der Gleise entfernt, der deutsche Kaiser Friedrich I, genannt Barbarossa, auf dem dritten Kreuzzug gen Jerusalem. Und etwa 100 Jahre später nahm auch Marco Polo diesen Weg, der fortan Seidenstraße genannt werden sollte. Von Konstantinopel über Konya nach Bagdad. Das damals allerdings nicht mehr als ein Zwischenstop auf dem Weg nach China war.
Erschienen als Teil der Serie Von Babylon bis Bagdad, stern 09/2003