Wer den Göttern nahe sein wollte, musste schwindelfrei und nachtaktiv sein. Tief unter dem Aussichtspunkt schlief die Stadt Babylon unter der Decke ihrer Dächer, müde wälzte sich der Euphrat durch die dunkle Ebene. Doch wandte man den Blick nach oben, konnte man durch die klare, trockene Nachtluft die Sterne sehen – Künder des Willens der Hauptgötter Marduk und Ishtar, des flinken Nebo und des kampflustigen Nergalin. Die Sterne, so glaubten die Babylonier, erzählten als helle Punkte auf dem Schwarz des Himmels aus dem Reich der Unsterblichen. Der Beobachtungsturm hoch über Babylon gehörte zum Tempel Esagilla, in dem die bekannteste Schule der Astronomie des Zweistromlandes untergebracht war. 91 Meter war er hoch. Das Klima der babylonischen Ebene begünstigte die nächtlichen Himmelsbeobachtungen. Zwei Drittel des Jahres ist der Himmel über Babylon heiter und klar, verdecken keine Wolken den Blick auf die Sterne.
600 Jahre lang, zwischen 650 und 50 v. Chr., blühte in Babylon die Wissenschaft der Astronomie. Detailliert wurde Buch geführt über die Auf- und Untergänge von Sonne und Mond, aber auch der Sternbilder und Planeten. Weiterhin gehörte es zur Aufgabe der Astronomen, genau zu notieren, wann sich Regenbögen zeigten, wann in der Stadt Feuer ausbrach, wann die Zahl der Diebstähle auf dem Markt zu- oder abnahm und wie sich die Preise von Gerste, Datteln, Pfeffer, Kresse, Sesam und Wolle entwickelten.
Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten die Astronomen damit, lange Listen von Himmelsereignissen anzufertigen. Das war allerdings nicht neu, sie konnten zur Blütezeit der Astronomie in Babylon bereits auf die Archive von Jahrtausenden zurückgreifen. Die ersten erhaltenen Aufzeichnungen von Beobachtungen des Morgen- und Abendsterns, der Venus, wurden schon um 3000 v. Chr. in Tontäfelchen geritzt. Die Menge der vorhandenen Beobachtungen erlaubte es, Vorhersagebücher zu verfassen. Wann würde dieses Jahr das Sternbild des Ziegenfisches zum ersten Mal am Horizont erscheinen? Wann würde sich der Planet Merkur zeigen und den Regen ankündigen? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die meisten der Texte. Nur wenige Meister verfügten über das Wissen, aus dem Lauf der Sterne auch außergewöhnliche und seltene Phänomene vorherzusagen wie die Verdunkelung des Mondes oder gar der Sonne.
Die Mittel, die den Astronomen zur Verfügung standen, waren äußerst bescheiden. Wahrscheinlich hatten sie in den meisten Fällen bloß ihre Augen, um den Lauf der Sterne zu verfolgen. Trotzdem waren die Ergebnisse von erstaunlicher Genauigkeit. Kidinnu, ein babylonischer Astronom des 4. Jh. v. Chr., berechnete die mittlere Zeitdauer zweier Mondphasen auf 29,530594 Tage. Heute wissen wir, dass dieser Zeitraum 29,530589 Tage dauert, Kidinnu irrte sich also lediglich um 0,4 Sekunden. Weiterhin nahm seinen Berechnungen nach die synodische Umlaufzeit des Planeten Venus 583,91 Tage in Anspruch. Unser heutiger Wert liegt bei 583,92 Tagen, also nur knapp 15 Minuten von dem Kidinnus entfernt. Sogar den Saruszyklus, also die Verfinsterung der Sonne im regelmäßigen Abstand von 18 Jahren, kannten die Babylonier.
Das Erbe der babylonischen Astronomen bestimmt auch heute noch unser Leben. Mit Hilfe der Sterne teilten sie die Zeit in feste Abschnitte. Dabei bedienten sie sich des Sexagezimalsystems, also einer Einteilung in Einheiten von je 60. Noch heute hat unsere Stunde 60 Minuten, unsere Minute 60 Sekunden. Den Tag, also die Zeit von einem Aufgang eines hellen, besonders gut beobachtbaren Sterns, bis zu seinem erneuten Erscheinen am Himmel am folgenden Tag, teilten sie mit Hilfe einer Wasseruhr in 12 Doppelstunden. Auch nach diesen 24 Einheiten richten wir uns immer noch, ebenso wie nach der Einteilung des Jahres in zwölf Monate. Und schon damals wußte man die Verschiebung, die sich durch die Jahresdauer von 365,25 Tagen ergibt, mit Hilfe von Schalttagen auszugleichen. Auch viele Namen von Sternbildern haben sich bis in unsere Zeit erhalten. Der babylonische Ziegenfisch ist inzwischen längst zum Steinbock geworden. Aber der Stier, die Zwillinge, der Skorpion und der Schütze ziehen noch, wie Jahr für Jahr seit vielen tausend Jahren, im ewigen Wechsel über das Firmament.
Erschienen als Teil der Serie Von Babylon bis Bagdad, stern 08/2003