Pogrom im Schtetl

Zuerst Ekel, dann Mitleid, empfand der Dichter Heinrich Heine, als er „den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartigen Löcher sah, worin sie wohnten, mauschelten, beteten, schacherten und – elend waren…“ Doch so elend es dort auch sein mochte, das Schtetl – die jüdische Siedlung oder das jüdische Viertel einer Kleinstadt – war für die Juden eine heile Welt. Hier gab es eine Synagoge, einen jüdischen Friedhof und eine mikwe, das rituelle Badehaus. Alles im Schtetl war jüdisch, die Kleidung, die Sprache, die Sitten. Da die russischen Gesetze im ausgehenden 19. Jahrhundert den Juden nur sehr begrenzt das Arbeiten erlaubten, streiften viele von ihnen Tag für Tag durch die armseligen Gassen, um hier und da Beschäftigung zu finden – ein wenig zu handeln, ein bißchen zu tauschen, vielleicht einen Botengang zu erledigen oder gar eine Heirat zu vermitteln. „Luftmenschen“ nannte man diese armen Kreaturen, weil sie von der Luft zu leben schienen. Dass das Leben auch anders aussehen könnte als im verarmten Schtetl war vielen von ihnen nicht bewusst. Die wenigsten Juden verließen zu Lebzeiten je ihr Viertel oder bekamen gar eine ferne Großstadt wie Moskau oder Kiew zu sehen. Sie führten ihr Leben – und blieben unter sich.

Die abgeschotteten jüdischen Gemeinden, zu denen Nicht-Juden keinen Zugang hatten, wurden zu Fremdkörpern im Land – misstrauisch, neidisch und ängstlich beäugt von den Russen, die selbst in elenden Verhältnissen leben. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entlud sich die Wut und Verzweifelung der einfachen Bevölkerung.

Zum Beispiel in Kishinev. Der 6. April 1903 war ein großer Festtag. Die russisch-orthodoxen Christen feierten Ostersonntag, die jüdische Gemeinde den letzten Tag des Passahfestes. Das Wetter war bereits ungewöhnlich warm und sonnig. Um den Chuflinskii Platz herum waren Buden und Karussells aufgebaut. Der Alkohol floß – endlich, nach der langen Zeit des vorösterlichen Fastens – in Strömen. Bereits am frühen Nachmittag waren die ersten Christen betrunken. Während die kleinen Kinder auf dem Karussell ihre Runden drehten, fingen die Jugendlichen an, Kreise um einzelne Juden zu bilden, gröhlend und drohend, bis diese ausbrachen und flohen. Mit den Stunden stieg der Alkoholpegel, mehr und mehr Erwachsene stießen zu der Meute. Als kein Jude mehr in Sicht war, brach man auf, sich neue zu suchen.

Kleine Gruppen von 10 bis 15 Männern zogen in Richtung des Judenviertels. An der Spitze die Hetzer, die mit ausgestreckten Fingern auf Wohnhäuser und Geschäfte zeigten, die die darauffolgenden Steinewerfer sich dann Haus für Haus, Laden für Laden vornahmen. Im Schlepptau kam ein Tross von weniger Mutigen, die jedoch gierig jede Gelegenheit nutzten, sich von dem zu bedienen, was nach der Verwüstung hinter den zerbrochenen Schaufenstern und den aus den Angeln gerissenen Haustüren an Wertsachen zu holen war. Die Polizei stand am Straßenrand und sah zu. Einige wenige Polizisten, die versuchten, mit den Randalierern zu reden, wurden von der immer wilder werdenden Masse einfach bei Seite gedrängt.

Am späten Abend löste sich der Mob auf. Doch am Montagmorgen drängten schon früh die ersten Gruppen von Jugendlichen und Arbeitern erneut in das jüdische Viertel. Der Zug nahm groteske Formen an. Wurde ein Kleidungsgeschäft gestürmt, probierten die plündernden Männer und Frauen noch auf der Straße Hosen und Röcke an. Brachen sie in eine Weinhandlung ein, setzten die Plünderer die Flaschen sogleich an den Hals. Besonders wild wurde es in den Wohngebieten. Die Gassen waren bald übersäht von den Scherben zerschlagenen Porzellans, und überall wirbelten die Federn der aufgeschlitzten Bettdecken. Fand man einen Juden, wurde er aus seinem Versteck gezerrt und mit allem geschlagen, was zur Hand war – Stöcken oder Eisenstangen – bis er blutüberströmt zwischen den Scherben und Federn am Boden lag.

Die Bilanz dieses Osterfestes in Kishinev: 49 getötete Juden, über 500 Verletzte, 700 zerstörte und geplünderte Wohnhäuser sowie 600 verwüstete Geschäfte. Insgesamt wurden 2000 jüdische Familien obdachlos und mussten sich zu Freunden oder Verwandten in deren ohnehin schon überfüllte Häuser drängen. Mit dem Beginn der Progrome war Armut nicht mehr die einzige ständige Bewohnerin der Gassen im Schtetl. Zu ihr gesellte sich die Angst.

Nicht jedes Porgrom ist so gut dokumentiert wie das von Kishinev. Nicht von jedem Schtetl gibt es Listen über die Toten, über die zerstörten Existenzen. Zwischen 1881 und 1914 flohen 2,5 Millionen osteuropäische Juden aus ihrer Heimat. 80 bis 85 Prozent wanderten nach Amerika aus. Einige zogen in das Land ihrer Vorväter, nach Erez Israel, um dort eines Tages ihren eigenen Staat gründen zu können. Es waren diese aus Russland vertriebenen Schtetl-Juden, die auf dem kleinen Streifen Wüste zwischen Mittelmeer und Totem Meer zu den ersten Pionieren des Zionismus wurden.

Erschienen als Teil der Serie „Wem gehört das Heilige Land“, stern 21/2002