8 Tote, 17 Tote, 2 Tote… Die Zahlen der getöteten Israelis bei palästinensischen Selbstmordattentaten nehmen sich bescheiden aus im Vergleich mit dem Anschlag, den ein Israeli um das Jahr 1200 v. Chr. auf eine Versammlung von Palästinensern verübte. Über 3000 feiernde Zivilisten riß Samson mit sich in den Tod, als er damals den Tempel des Dagon zum Einsturz brachte.
Bereits zu seinen Lebzeiten war Samson eine Geißel der Philister, wie die Palästinenser damals noch hießen. 1030 von ihnen erschlug er, dazu kamen verbrannte Felder und zerstörte Olivenhaine. Was trieb diesen Mann zu derartigen Grausamkeiten? Zwischen den Zeilen ist es die Geschichte von der gekränkten Eitelkeit eines Egozentrikers.
Die Machtverhältnisse im Heiligen Land waren in jenen Tagen anders verteilt als heute. Da die Israeliten sich wieder einmal nicht gerade gottesfürchtig aufgeführt hatten, ließ sie der Herr zur Strafe für vierzig Jahre unter der harten Knute philistinischer Herrschaft leben. Warum er dann allerdings Samson in die Welt setzte, um unter den Philistern verheerende Schäden anzurichten, geht aus der Bibel nicht hervor.
Samson war ein Nasiräer und gehörte somit zu einer kleinen Elite, deren Leben Gott geweiht war. Drei Verbote prägten das Leben der Nasiräer: Kein Alkohol, kein Haarescheeren und nichts Anfassen, was tot ist. Solange sie sich daran hielten, konnten sich diese Auserwählten der uneingeschränkten Unterstützung des Herrn sicher sein. Neben Samson zählten auch Johannes der Täufer und Paulus zu den Gott geweihten Langhaarträgern.
Bis zum Ende der Pubertät Samsons ist die Geschichte noch geprägt von einem klaren Verständnis für Gut und Böse. Die Philister, wenn auch bewußt von Gott als Strafe geschickt, sind böse. Die unterdrückten Israeliten, die nun redlich nach Wiedererlangung des göttlichen Wohlwollens streben, sind gut. Doch mit dem Interesse Samsons an den Frauen beginnen die Probleme. Denn um einen Streit mit den ungeliebten Herrschern über sein geliebtes Volk zu provozieren, sucht der Herr ausgerechnet eine Philisterin aus, in die der starke Knabe sich verlieben soll. Bei der Verlobungsfeier wettet Samson mit den Verwandten seiner Zukünftigen um die Lösung eines Rätsels. Lösen können sie es zwar nur, weil das Mädel mit tricksender Weiblichkeit Samson die Antwort entlockt, aber Wettschulden sind Ehrenschulden. Samson begleicht sie umgehend, erschlägt dafür 30 Philister, plündert deren Kleidung und zahlt so seine neue Familie aus. Einen Gewalttäter will diese allerdings nicht in ihrer Mitte haben und verheiratet die Frau dann doch lieber schnellstmöglich mit Samsons Freund, der eigentlich nur als Brautführer zu der Feier gekommen ist.
Die Spirale der Gewalt hat begonnen. Als Racheakt fängt Samson 300 Füchse, zündet deren Schwänze an und treibt sie als lebende Fackeln über die Felder und durch die Olivenhaine der Philister. Im Gegenzug verbrennen diese das Objekt seiner Begierde – die Frau – samt Vater und Haus. Samson, nun seinerseits wieder an der Reihe, nimmt den Kinnbacken eines Esels und erschlägt damit 1000 seiner Feinde. Leichte Beunruhigung macht sich bei der Lektüre der Bibel breit, wenn an dieser Stelle zum ersten Mal der Beruf des Samson genannt wird: „Er war zur Zeit der Philister zwanzig Jahre lang Richter in Israel.“
Daß Samson bei schönen Frauen nicht den Mund halten kann, wird ihm zum zweiten Mal zum Verhängnis, als er sich in Delila verliebt. Denn die nimmt das von den Philistern für einen Verrat gebotene Silber gerne an und entlockt ihm das Geheimnis seiner Stärke – es sind die langen Haare, die ein Nasiräer nie schneiden darf. Mit Hilfe von Delila und einer scharfen Schere können die Philister den Wüterich bezwingen. Samson wird geblendet und dazu verurteilt, die Mühle zu treten. Doch Stunde um Stunde die er in der Mühle verbringt, fangen seine Haare wieder an zu wachsen.
Gerade rechtzeitig zu der großen Siegesfeier im Tempel sind seine alten Kräfte zurückgekehrt. Johlend haben sich die Philister versammelt, allein 3000 von ihnen auf dem Tempeldach, um mit dem blinden Samson ihre Späße zu treiben. Doch das Lachen bleibt ihnen im Hals stecken, als der Wiedererstarkte mit den Worten „So mag ich denn zusammen mit den Philistern sterben“ nach den Säulen des Tempels greift. Ein kräftiger Ruck, und unter dem einstürzenden Dach der heiligen Halle wird der Israeli Samson zum ersten Selbstmordattentäter der Geschichte. Der Bericht über die Ereignisse schließt mit einer nüchternen Wiederholung der Feststellung: „Samson war zwanzig Jahre lang Richter in Israel“.
Erschienen als Teil der Serie Wem gehört das Heilige Land, stern 20/2002