Beutel-Kunst

Die Kokos-Mais Suppe ist nahezu perfekt. Cremig-sämig, von einer Konsistenz, die sich am Gaumen anfühlt, als ob man sein Lieblingssweatshirt über den Kopf zieht. Markus und Daniel haben sie gekocht. Zwei Tage lang haben sie in der Küche gestanden und einen kleinen Suppenvorrat angelegt. Dieser wird bei Bedarf in der Lounge des kleinen Geschäfts in Davos hungrigen, neugierigen oder einfach nur durch Zufall in den Laden gestolperten Menschen serviert. Eigentlich geht es in dem Laden nicht um Suppen. Und weder Markus noch Daniel sind Koch.

Es geht um Freitag, und Markus und Daniel sind Freitag. Die beiden Brüder, 31 und 30 Jahre alt, gehören zu den bekanntesten Schweizern ihrer Tage. Sind erfolgreiche Geschäftsmänner. Design-Preisträger. Doch mehr als all das sind sie Freitag. Allüren? Ja, aber anders. Zwei Brüder, die sich heute noch genau so wie damals als Kinder an verregneten Sonntagnachmittagen, wenn das Wetter zu schlecht fürs Skifahren ist, zusammensetzen und an neuen Ideen basteln. Die die Welt um sie herum mit einem ironischen Funkeln in den wachen Augen beobachten. Augen in den satten Farben von schweizer Schokolade. Markus in Zartbitter, Daniel in Vollmilch. Zwei Brüder, die niemals das verloren haben, was Lars Müller, Autor des über Freitag erschienenen Buches, als „unschuldigen Enthusiasmus“ bezeichnet. Ein Enthusiasmus, der hochgradig ansteckend ist. Wenn die Angestellten, die mittlerweile zur Freitag-Familie gehören – diesem kleinen Zoo von Individualisten – über ihre beiden Chefs sprechen, glimmt in ihren Augen ein leidenschaftlicher Respekt, der in den Blicken von Liebenden nur allzu häufig fehlt.

Und nebenbei geht es um Taschen. Taschen, die aus alten LKW-Planen, Autogurten und Fahrradschläuchen gemacht sind. Planen, die tausende von Kilometern Straße gesehen haben. Auf ihrem Weg Zeitungen oder Fotoapparate oder Mais in Dosen vor Sonne, Wind und manchmal auch Schnee schützten. Gurte, die lange Jahre rein profilaktisch die Fahrer der Autos auf jedem Weg, auf jeder Reise, vor einem grausamen Tod beim Durchschlagen der Frontscheibe bewahrten. Fahrradschläuche, die den Asphalt besser kennen als die Gummisohlen an den überflüssigen Turnschuhen eines Autofahrers. Sie alle bekommen bei Freitag eine zweite Chance, ein neues Leben, ein Dasein als Tasche. Als Freitag-Tasche, treuerer Begleiter des urbanen Cowboys als jeder deutsche Schäferhund es je sein könnte.

1993 besorgten sich Markus und Daniel die erste Plane. Ein riesiges, dreckiges, stinkendes Ungetüm, das auf dem Fahrradanhänger in die Wohnung transportiert wurde. Ein längerer Aufenthalt in der Badewanne spülte zwar den Staub runter, konnte aber weder die Narben des Lebens auf der Straße noch den durchdringenden Geruch nach Kohlenmonoxyd und Altöl wegwaschen. Aber gerade dadurch hing der ersten Tasche, die aus dieser Plane genäht wurde, ein Zauber an. Als ob sie wispernd von langen einsamen Nächten immer der Leitplanke entlang erzählte. Die Tasche steht heute im Zürcher Museum für Gestaltung. Der Zauber aber, der den Freitag-Taschen anhängt, ist nie verflogen. Auch wenn die Planen inzwischen in Industriewaschmaschinen statt in Badewannen stadtfein gemacht werden. Den Geruch von Kohlenmonoxyd und Altöl können auch diese ihnen nicht nehmen.

Einen Laden mit Kokos-Mais Suppe und einem Kreditkarten-Lesegerät gab es damals noch nicht. Wer eine Tasche haben wollte, konnte bei Markus und Daniel in der Küche vorbeischauen, oder zu einem der Events auf Hochhausdächern oder in leeren Parkhäusern im zürcher Industriegebiet kommen, die die beiden veranstalteten. Die Leute kamen, unterhielten sich mit den Freitag-Brüdern und nahmen eine, oder auch zwei oder drei, Taschen mit. Irgendwann bekam die Geschichte eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik. Freitag-Taschen-Träger wurden auf der Straße angesprochen, erzählten die Geschichte der Brüder und der Taschen und gaben die Adressen der wenigen Geschäfte weiter, die mittlerweile eine kleine Auswahl in der Ecke liegen hatten. Die Nachfrage war riesig, die Taschen wenige. Zu den ersten Gehversuchen in Richtung einer größeren Produktion gehörten die Anschaffung einer gebrauchten Industrienähmaschine und die Anstellung von Salim, einem afghanischen Näher. Salim verdiente im Monat so viele Franken, wie Markus und Daniel sich gemeinsam aus dem schmalen Budget zugestanden. Bald konnte er sich einen alten BMW zulegen. Markus und Daniel fuhren weiterhin Fahrrad. Ein BMW hätte bei den beiden allerdings auch nur sinnlos im Hinterhof gestanden, da sie keinen Führerschein hatten. Markus hat bis heute keinen. Daniel fährt, wenn nicht Fahrrad aus Leidenschaft, einen Volvo, der älter ist als er selbst.

Eine Tasche konnte man immernoch nicht kaufen, ohne die Freitag-Geschichte erzählt zu bekommen. Ohne um Markus und Daniel zu wissen. Als die schweizer Zeitschrift „Young Anabelle“ eine Satire über die beiden veröffentlichte, in der Markus und Daniel falsche Schnurrbärte trugen und als Playboys mit fetten Bankkonten, schnellen Autos und willigen Mädchen in die Kamera grinsten, brach ein Sturm über Zürich los. Enttäuschte Freitag-Taschen-Träger vergruben ihre Taschen tief im Schrank hinter den zwei Nummern zu kleinen Joggingschuhen. Ein besorgter Vater rief an und erzählte, seine Tochter sei nach der Lektüre des Artikels „sehr irritiert“. Eine Freitag-Tasche ist eben nicht nur eine Freitag-Tasche, sie ist ein kleines Stück einer besseren Welt.

Deutlich wurde dies, als die Supermarktkette Migros 1997 eine Imitation der Freitag-Tasche auf den Markt brachte. Auf den billigen, in China aus neuem Plastik gefertigten Massenprodukten prangte groß der Markenname „Donnerstag“. Von den schweizer Bergen hallte schallendes Gelächter ob dieses lächerlichen Versuches wieder. Migros nahm die Taschen aus den Regalen und die wenigen tatsächlich verkauften sind heute begehrte Sammlerobjekte.

Es kam der Punkt, an dem die halbe Schweiz aufgebracht darüber diskutierte, ob man Freitag-Taschen noch tragen könne, nun, da sie vom Kultobjekt zur aus dem städtischen Alltag nicht mehr wegzudenkenden Massenware mutiert waren. Doch inzwischen haben selbst die härtesten In/Out-Listen-Fetischisten ihre Freitag-Taschen wieder hinter den Joggingschuhen vorgezerrt und sich auf den beruhigenden Schluß geeinigt, daß es sich bei ihnen schlicht und einfach um einen schweizer Klassiker handelt. Anzunehmen, daß mehr Zürcher eine Freitag-Tasche auf dem Rücken tragen als ein schweizer Messer in der Hosentasche. Vielleicht sogar als eine echte schweizer Uhr ums Handgelenk. Hier zeigt sich der wahre Unterschied zwischen Tourist und Einheimischem: Der Tourist ist mit Messer und Uhr bewaffnet. Der Zürcher mit Freitag.

Zürich als Wohn- und Arbeitsstätte von Markus und Daniel ist immernoch die Hochburg der Freitag-Taschen. Hier, auf heimatlichem Territorium, kennt jeder die Geschichte, die hinter den Taschen steht. Und es sollte nicht sein, daß in Berlin, New York oder Tokyo jemand eine Freitag-Tasche kaufen kann, ohne um Zeitungen, Fotoapparate und Dosenmais zu wissen, um die bedrohliche Windschutzscheibe und das intime Verhältnis von Fahrradschläuchen zum Asphalt. Die Nachfrage war jedoch längst über die Kapazitäten von Küchentischen, Parkhausdächern und Ladenecken hinausgewachsen. Die Lösung des Problems duckt sich in Form eines kleinen Holzhäuschens drei Zugstunden von Zürich entfernt an der Promenade von Davos: Der erste eigene Laden.

Würden nicht in den Schaufenstern zufällig ein paar Taschen stehen, käme der hungrige, neugierige oder einfach nur durch Zufall in den Laden gestolperte Mensch gar nicht auf die Idee, hier nach ihnen zu suchen. Reinkommen, Tasche kaufen und rauslaufen funktioniert nicht. Ein erster Schritt in die Lounge und man bleibt unwillkürlich hängen. Es riecht nach frisch gesägtem Holz. Auf den Sofas und Sesseln verteilt liegen Snowboard-Magazine, deren Zustand nicht auf ihr hohes Alter, sondern auf leidenschaftliches gelesen werden zurückzuführen ist. Wenn nicht von den Besuchern, dann von Xandi und Nico, den beiden Verkäufern, oder von Markus und Daniel selber. Hier ist Freitag. Es sind auch, aber nicht nur, die Suppen. Es ist auch, aber nicht nur, die fast beängstigende Hingabe zur Perfektion, mit der die beiden Brüder eigenhändig die Holzverkleidung gesägt und eingepasst haben. Es sind auch, aber nicht nur, die zerfledderten Magazine mit Fotos von lockenden Abhängen. Es ist eben Freitag.

Die Taschen stapeln sich im hinteren Teil des Ladens. Hinter dem kleinen DJ-Pult. Doch so abgeschieden, wie der Raum wirkt, ist er bei weitem nicht. Denn hier hängt eine der beiden Webcams, über die der Laden mit dem Rest der Welt, mit Singapur, Idaho oder Hamburg verbunden ist. Wer gerade nicht in Davos weilt, kann sich auf dem eigenen Herd eine Tütensuppe heiß machen und über die Freitag-Homepage in den Laden spazieren. Anruf genügt, und Xandi oder Nico holen aus den Regalen geduldig eine Tasche nach der anderen und halten sie vor die Webcam, bis der Anrufer seine ganz eigene Tasche gefunden hat. Die dann per Post nach Singapur, Idaho oder Hamburg kommt. Und wenn einem die Tütensuppe nicht schmeckt und man ganz lieb fragt, dann könnte es sein, daß sie auch noch eine selbstgekochte dazupacken. Denn das ist Freitag.

Erschienen im stern 14/2002.