Postfach 1663 Santa Fe

Stirling Colgates Haut dampft, als er vom Spielfeld zurück zu dem Holzverschlag stapft, der den Jungs als Unterkunft dient. Selbst jetzt noch, Anfang Dezember, lassen die Lehrer sie nur in kurzen Hosen Sport treiben. Es diene der Abhärtung, wird ihnen gesagt. Abhärtung hatten sie alle bitter nötig, als sie aus den wohlgeheizten Neuengland-Villen ihrer steinreichen Eltern hierher auf die Ranch School kamen. Hoch in die Sangre de Cristo Mountains, wo die pinienprickelnde Luft so dünn und klar ist, daß ein tiefer Atemzug während der ersten Wochen hier oben den stadtgewöhnten Lungen schmerzt. Sie alle sind hergeschickt worden, um von verzärtelten Ostküsten-Jungs zu harten Männern der Berge zu reifen. Während Stirling die leicht überfrorenen Matschpfützen auf dem Weg umrundet, grübelt er wie so oft in den letzten Tagen darüber nach, warum er neulich den Nobelpreisträger Ernest Lawrence aus der Tür des Schulleiters hatte kommen sehen. Stirling Colgate liebt die Physik, und der Physiker Lawrence ist eine Berühmtheit — vor einigen Jahren hat sogar das Time Magazine sein Gesicht auf der Titelseite gehabt. Später an diesem Abend auf einer Schulversammlung erfährt Stirling Colgate den Grund des seltsamen Besuchs. Die Armee hat das menschenleere Gelände in den Sangre de Cristos gekauft. Die Ranch School wird aufgelöst.

Doch erst Jahre später — Stirling Colgate ist inzwischen als berühmter Physiker wieder an den Ort zurückgekehrt, an dem er im Dezember 1942 in kurzen Hosen durch die Kälte getobt war — kennt er die ganze Geschichte. Die Armee suchte damals einen abgeschiedenen Platz, um eine Geheimwaffe bauen zu können. Unter der Leitung von Robert Oppenheimer versteckt sich in den darauffolgenden Jahren eine Gruppe von Wissenschaftlern in der Abgeschiedenheit der Berge und arbeitet unter dem Codenamen „Manhattan Project“ an der Entwicklung der Atombombe. Das Gelände der Ranch School, im Gebiet der ehemaligen spanischen Siedlung Los Alamos, bietet ideale Vorraussetzungen. Neu Mexiko ist ein Staat, der zu großen Teilen aus unwegsamer Wildnis besteht. Auf die Hochebene von Los Alamos wird sich so schnell kein Wanderer verlieren. Der einzige Pfad, der hinaufführte, kann leicht für den Transport von schwerem Gerät ausgebaut und dann von Militär blockiert werden. Einmal aus dem Boden gestampft, wird Los Alamos hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt.

Doch eine Stadt aus dem Boden zu stampfen, in der Wissenschaftler forschen und ihre Familien leben konnten, ohne daß der Rest der Welt davon erfährt, ist keine einfache Aufgabe. Da man die Anzahl der Leute, die von dem Manhattan Project Kenntnis haben, so gering wie möglich halten muß, wird ein Mitglied des Teams, der Chicagoer Metallurg Hugh Bradner, mit der Stadtplanung beauftragt. Bradner nimmt sich die Gelben Seiten von Chicago zur Hand, und blättert diese durch auf der Suche nach öffentlichen Einrichtungen, die eine Stadt brauchen wird. Die Idee ist clever. Einzig ein Geldinstitut hat Los Alamos in den ersten Monaten nicht — Banken inserierten in jenen Tagen nicht in den Gelben Seiten.

Die strikte Geheimhaltung des Manhattan Projects funktioniert. Nicht-Wissenschaftler, die in der Stadt arbeiten, werden nur angestellt, wenn sie ein entscheidenes Kriterium erfüllen: Sie müssen Analphabeten sein. Denn jede Putzfrau oder jeder Müllmann, der auf einem achtlos weggeworfenen Zettel eine Formel oder eine Notiz lesen kann, wird zum potentiellen Spion. Die einzige Kanüle, die Los Alamos mit der Außenwelt verbindet, ist das Postfach 1663 auf dem Postamt in Santa Fe. Durch dieses Postfach geht die gesamte Korrespondenz, die zur Entwicklung der tötlichsten Waffe der Welt geführt wird. Es ist das einzige Zeugnis der Existenz Los Alamos. Selbst wenn eine junge Familie in der Stadt ein Baby bekommt, wird es laut Geburtsurkunde im Postfach 1663, Santa Fe, Neu Mexiko, geboren.

Als die beiden Atombomben 1945 gezündet werden, leben in Los Alamos bereits 6000 Menschen. Doch das Tor im Zaun bleibt noch bis 1957 verschlossen. Erst dann haben sich die Laboratorien so weit von der Stadt getrennt, daß sie eigene abgeschirmte Sicherheitskomplexe bilden können. Noch heute ist Los Alamos führend in der Forschung an A-, B- und C-Waffen. Und deshalb ist Los Alamos auch immernoch keine normale amerikanische Stadt. Die Kinder, die heute in Los Alamos zur Schule gehen, haben zwar nicht mehr ganz so reiche Eltern wie Stirling Colgate und seine Klassenkameraden, sind aber landesweit betrachtet überdurchschnittlich schlau. Denn ihre Eltern gehören zu den brilliantesten Wissenschaftlern der Gegenwart. Nur gesund und abgehärtet sind sie nicht mehr. Die Anzahl von Gehirntumoren in Los Alamos liegt ebenfalls weit über dem Landesdurchschnitt. Der Boden der Hochebene ist mit einer radioaktiven Strahlung verseucht, die trotz der immernoch pinienprickelnden Luft den Ort zu einem der ungesundesten Amerikas macht.

Erschienen als Teil der Serie „Der Aufstieg Amerikas — Von der Kolonie zur Großmacht“, stern 10/2002