Die Hexen von Salem

Viele Auswanderer, die vor der Inquisition in Europa nach Amerika geflohen waren, fühlten sich als die besseren Christen. Doch bald kam es auch in der Neuen Welt zur Hexenjagd.

An den bitterkalten Januarabenden des Jahres 1692 saßen die neunjährige Pfarrerstochter Elisabeth Parris und ihre elfjährige Cousine Abigail Williams oft am warmen Herdfeuer im Pfarrhaus. Die indianische Sklavin der Familie, Tituba, wusste wunderbare Gruselgeschichten. Geschichten von fliegenden Hexen, die Nachts auf ihrem Besen zum Teufel ritten. Und von unschuldigen kleinen Mädchen, die von diesen fliegenden Hexen mit düsteren Flüchen belegt wurden. Elisabeth und Abigail rücken eng zusammen und hielten sich fest an den Händen, wenn Tituba die Augen rollte und ihre Stimme senkte: „Passt nur auf, daß sie Euch nicht auch holen!“

Tituba konnte gut erzählen — zu gut. Denn eines Morgens zeigten die beiden Mädchen die gleichen Symptome, wie die unschuldigen Kinder in Titubas Geschichten. Elisabeth und Abigail wälzten sich auf dem Fußboden, schrieen und zuckten unkontrolliert und empfanden plötzlich eine diebische Freude daran, die Bibel quer durch den Raum zu schleudern und im Gottesdienst laut dazwischenzurufen. Bald begannen auch die Freundinnen der beiden Mädchen, sich so unerklärlich zu verhalten. Für den Dorfarzt gab es nur eine Erklärung: Die Kinder von Salem waren verhext.

Das gesamte Dorf bemühte sich, dem Spuk ein Ende zu setzen. Fasten müsse man, verordnete Dorfpfarrer Parris. Die Gemeinde fastete und betete noch inniger als zuvor. Einen Hexenkuchen müsse man backen, schlug Nachbarin Mary Sibley vor. Aus Roggen und dem Urin der Mädchen buk Tituba einen Fladen, der dann an einen Hund verfüttert wurde. Doch nichts geschah. Als die Kinder wieder und wieder befragt wurden, wer sie zu ihren Untaten trieb, nannten sie drei Namen: Tituba, die Sklavin, Sarah Good, eine alte, pfeifenrauchende Bettlerin, und die schrullige, verkrüppelte Sarah Osborne, die man schon ein ganzes Jahr lang nicht mehr in der Kirche gesehen hatte. Doch dies war erst der Anfang. In den folgenden Wochen verfiel Salem in eine fiebrige Hexenjagd, bei der bisweilen ein Löffel geronnene Butter oder eine verdorbene Käserinde Beweis genug waren, unliebsame Zeitgenossen an den Galgen zu liefern. Die Bilanz der acht Monate andauernden Hysterie: 23 Tote, 19 davon hingerichtet, vier elendiglich im Gefängnis zu Grunde gegangen, noch ehe sie den Weg zum Henker antreten konnten. Dazu kamen zwei gehängte Hunde. Und die zerstörten Existenzen von über 150 Menschen, die der Hexerei bezichtigt wurden.

Als die Oktobersonne die Wälder um Salem gold und rot färbte, verschwand der Hexenwahn so plötzlich, wie er gekommen war. Wer noch im Gefängnis saß, wurde in die Freiheit entlassen.

Erst 1706 — vierzehn Jahre nach dem schlimmsten Ausbruch von Hexenverfolgung westlich des Atlantiks — gab Ann Putnam, eine der Freundinnen von Elisabeth und Abigail, zu, die Anfälle nur vorgetäuscht zu haben. Zwar wurde 1711 eine Generalamnestie für die Meisten der im Hexenwahn von Salem Verurteilten ausgesprochen. Doch die Selbstgerechtigkeit der puritanischen Gesellschaft blieb von dem Eingeständnis noch weitere 250 Jahre unberührt. 1957 endlich wurde die ein Vierteljahrhundert zuvor gehängte Ann Pudeator für unschuldig erklärt. Und an Halloween 2001 unterzeichnete die Gouverneurin von Massachusetts, Jane Swift, die Unschuldserklärung für die fünf letzten „Hexen“, die bis dahin noch als solche durch die amerikanische Geschichtsschreibung gespukt waren.

Erschienen als Teil der Serie „Der Aufstieg Amerikas — Von der Kolonie zur Großmacht“, stern 7/2002