Das amerikanische Jahrhundert beginnt

Zum ersten Mal in der Geschichte setzt ein amerikanischer Präsident in offizieller Mission seine Füße auf europäischen Boden. Es ist eine kleine Sensation. Woodrow Wilson ist nach Paris gekommen, um dort an den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Im Gepäck hat er einen aus 14 Punkten bestehenden Plan zur Neuordnung der internationalen Verhältnisse. Seine Vision: eine friedliche und gerechte Welt unter der moralischen Führung der USA. Mit dem entsprechenden missionarischen Eifer läßt Wilson auf der Konferenz seine Donnerstimme erschallen wie ein Wanderprediger in der Scheune. Europa hat jedoch alles andere im Sinn, als sich von Amerika missionieren zu lassen. Der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau kommentiert das Auftreten des amerikanischen Präsidenten sarkastisch: „Mr. Wilson ödet mich mit seinen vierzehn Punkten an, selbst der Allmächtige hat nur zehn!“ Nach diesen gescheiterten Versuchen der Machtübernahme auf internationaler Ebene zieht sich Amerika beleidigt zurück in die Isolation. Die USA bleiben dem neu in Genf gegründeten Völkerbund — der Vorläuferorganisation der UN — fern und regeln ihre zwischenstaatlichen Beziehungen in separaten Verträgen. Das Land kann sich diese arrogante Haltung leisten, finanziell und wirtschaftlich ist es den anderen Großmächten weit überlegen. Diese stehen durch die Waffenkäufe für den Krieg noch mit 12 Milliarden US-Dollar in der Schuld Amerikas.

Die USA haben sich ihre Ziele klar gesteckt. Weiterhin gilt der bereits 1915 von Wilson geprägte Slogan „America first — Amerika vor allen Anderen!“ Das Land will seine gerade erst durch den Krieg erworbene Position unter den Großmächten der Welt kompromißlos ausbauen. Die Monroe Doktrin — keine Einmischung der Europäer in amerikanische Territorialangelegenheiten, ebensowenig wie der Amerikaner in europäische — soll gewahrt werden. Und eine Ausbreitung des Kommunismus muß unter allen Umständen verhindert werden. Wenn nicht mit dem Rest der Welt, dann eben ohne ihn.

Nach wie vor ist Amerika ein Land der Widersprüchlichkeiten. Sein Glaube daran, daß die Vereinigten Staaten der Welt Glückseeligkeit bringen können, ist ungebrochen. Innenpolitisch dagegen strebt Amerika nicht nach großen Taten, eher breitet sich nach den Kriegsjahren Erschöpfung aus. Warren G. Harding gewinnt die Präsidentschaftwahlen des Jahres 1920 mit der simplen Feststellung: „Amerika braucht keine Helden, sondern Heilung; keine Patentrezepte, sondern Normalität; keine Revolution, sondern Restauration.“

Die Prohibition, das gesetzlich geregelte Alkoholverbot, macht das Land zur Ausnüchterungszelle. Doch da das Vergnügen alte Wunden noch besser heilt als die Zeit, brodelt, kocht, tobt unter der Prohibition weiterhin das Leben. Rettende Engel des Vergessens erscheinen in der Gestalt von Schwarzbrennern, Alkoholschmugglern und Nachtclub-Besitzern. Manchmal sind es auch gefallene Engel wie Texas Guinan, legendäre Nachtclubbetreiberin und umschwärmte Frau in einer Welt voll Männer, die in den Jahren der Prohibition zur Ikone der Vergnügungssüchtigen wird. Zwischen Samtvorhängen und chinesischen Laternen räkelt sie sich auf dem Klavier eines ihrer Clubs oder sitzt breitbeinig auf einem umgedrehten Stuhl in der Mitte des Raumes. Sie dirigiert das Toben um sich herum mit einer Polizei-Trillerpfeife und einem Humor, der scharf, schnell und immer ein wenig ordinär ist. Niemand jedoch nimmt ihr den rauhen Ton übel. Im Gegenteil, Gangster und Geschäftsleute, Pokerspieler und Politiker buhlen um ihre Aufmerksamkeit, berauschten sich gleichsam am verbotenen Alkohol wie an der quirligen Tex. Wer nahe genug an Tex herankommt, sieht die Kette um ihren Hals, an dem eine Sammlung kleiner Schlösser hängt. Sie stehen für die unzähligen Male, die Tex bereits verhaftet, ihre Clubs geschlossen und der Alkohol konfisziert wurden. Doch Tex hinter Gittern zu halten ist beinahe ebenso schwer wie ihr die Clubs zu verbieten, und so wird die Hausdurchsuchung zum Spiel: Stürmt eine Polizeistreife den Laden, beginnt die Band den „Gefangenenchor“ zu spielen und Tex schreitet hocherhobenen Hauptes mit Siegerlächeln auf die Polizisten zu, die Handgelenke artig für die Handschellen vorgestreckt. Sie weiß, sie wird wiederkommen.

Gerade für viele Frauen wie Texas Guinan bietet die neue Lust am Laster die Gelegenheit zur Emanzipation. Seit 1920 dürfen auch sie in Amerika an die Wahlurnen gehen. In den „Roaring Twenties“ ändert sich mit dem Wahlrecht auch ihr Auftreten. Die Röcke und die Haare werden kurz, das Make-up wird dick aufgetragen. Die Vorbilder der jungen Frauen, die sich selber „Flappers“ nennen, sind französische Prostituierte — wie sie zwängen sie sich in enganliegende Kleider, tragen lange Perlenketten und rauchen die Zigaretten mit dünnen Spitzen.

Sex ist das Thema der Stunde. In den Zeitungen, auf der Kinoleinwand und auf der Theaterbühne — allerorten wird Intimes an der Öffentlichkeit ausdiskutiert. Die Flappers verschlingen begeistert die Ansichten Sigmund Freuds über die Befreiung von sexuellen Tabus. Bald sehnt sich der Theaterkritiker des „New Yorker“, Robert Benchley, zurück nach den Zeiten der Unschuld. „Ich habe die rebellische Jugend satt und ich habe die viktorianischen Eltern satt, und es ist mir egal, ob alle kleinen Mädchen in allen Teilen der Vereinigten Staaten ruiniert werden, oder ruiniert werden möchten, oder sich nicht ruinieren lassen. Alles was ich will ist: Schreibt keine Theaterstücke mehr darüber und zwingt mich nicht weiter, solches ansehen zu müssen.“ Wer nicht Freud liest, überwacht weiterhin gestreng die puritanischen Grundsätze eines geregelten Lebens. „Geregelt“ heißt, daß jeder, der kommunistischer Gesinnung, schwarzer Hautfarbe, katholischen Glaubens, rassisch minderwertiger Einwanderer, bürgerlicher Demokrat, streikender Arbeiter, linker Gewerkschafter oder Gegener des Alkoholverbots ist, die Ordnung empfindlich stört. So definiert zumindest der Ku Klux Clan die Liste der Staatsfeinde. Vor dem ersten Weltkrieg hatten sich die Aktivitäten dieses Clubs der weißen, protestantischen US-Amerikaner noch hauptsächlich auf die Südstaaten beschränkt. Doch nun ziehen seine Mitglieder — gut getarnt unter weißen Roben — landesweit im Fackelschein durch die Straßen und setzten in Selbstjustiz durch, was sie für Recht und Ordnung halten.

Zunehmende Rassenunruhen loderen gleichermaßen in großen Städten wie in kleinen Dörfern auf. Schon seit Ende des vorhergegangenen Jahrzehnts ist es immer wieder zu Ausschreitungen gekommen. So im Juli 1919, als ein schwarzer Teenager am Chicagoer Strand des Lake Michigan zu ertrinken droht. Er kann sich mit letzter Kraft noch an einen Holzbalken klammern und paddelt dem rettenden Stand entgegen — dem falschen Strand. Es ist der Stand, der für Weiße reserviert ist. Die in ihrer Ruhe gestörten Weißen bewerfen den Jungen mit Steinen und treiben ihn zurück in die Strömung. Wenige Minuten später versinkt er im See. Seine Freunde, die vom „schwarzen“ Strand aus zusehen müssen, stürmen den „weißen“ Strand und nehmen Rache. Für die kommende Woche herrscht in Chicago ein blutiger Rassenkrieg, in dem 23 Schwarze und 15 Weiße bei Bombenexplosionen, Schußwechseln und Messerstechereien ihr Leben verlieren.

Wie ein Fieber greift im gesamten Land vor allem die hysterische Angst vor einer kommunistischen Revolution — die „Rote Panik“ — um sich. Unter dem Befehl von Generalstaatsanwalt A. M. Palmer rollt am 2. Januar 1920 die Welle des staatlich organisierten Terrors gegen jegliche linke Gesinnung ihrem grausamen Höhepunkt entgegen. In einer einzigen Nacht werden auf Palmers Befehl in über 70 Städten mehr als 10 000 Personen wegen angeblicher Mitgliedschaft in kommunistischen Vereinigungen verhaftet. Grundlegende Rechte wie die Versammlungs-, die Presse-, die Rede- und die Meinungsfreiheit werden gesetzlich bis auf den Stumpf beschnitten. „Wenn es nach mir ginge“, erklärt Staatssekretär Langtry aus Massachusetts, „ich würde die Roten jeden Morgen in einen Gefängnishof führen und erschießen, und am nächsten Tag würde der Prozeß stattfinden um herauszubekommen, ob sie schuldig waren.“ So leidenschaftlich die Kommunisten im eigenen Land verfolgt werden, zeigen doch viele Amerikaner — inbesondere die Intellektuellen — warmherzige Sympathie mit den Russen, als deren Heimatland 1921 von einer Hungersnot ergriffen wird. Insgesamt 80 Millionen Dollar, das meiste davon Spenden aus privater Hand, bringt Amerika als Hungerhilfe für die offiziell so gehaßten Feinde zusammen. Die amerikanische Hilfsbereitschaft resultiert unter anderem aus einem Gefühl wirtschaftlicher Sicherheit. Man sonnt sich im Wohlstand, fernab vom Hunger und Leid in der übrigen Welt.

Der wähnt sich Amerika weiterhin überlegen. Stur entziehen sich die USA auch in den zwanziger Jahren jeglicher internationalen Verantwortung, die sie in ihrer Handlungsfreiheit einschränken könnte. 1924 verweigert Amerika seine Zustimmung zum Genfer Protokoll über ein Garantieabkommen zur friedlichen Regelung internationaler Konflikte, um sich nicht außenpolitisch verpflichten zu müssen. Im Jahr darauf lehnt es den Beitritt zur Genfer Konvention der Internationalen Konferenz über Waffen- und Munitionshandel ab, weil sich die Praxis des Waffenverkaufs an Kriegsparteien, die weitab des eigenen Territoriums streiten, in der Vergangenheit als äußerst gewinnbringend bewährt hat. Gleiches gilt für das Genfer Protokoll des selben Jahres über das Verbot von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg, wobei Amerika die einzige Großmacht ist, die sich weigerte, ihre Unterschrift unter das Protokoll zu setzten. Der Grundsatz „America first!“ läßt sich nicht mit einer Bindung an die ehrenhaften Absichten der übrigen Welt vereinbaren. Nirgendwo jedoch leben die USA die Rücksichtslosigkeit und Arroganz ihrer Außenpolitik so ungehemmt aus wie in Lateinamerika. Hier exerzieren sie das, womit sie global gescheitert sind. Dabei berufen sich die USA auf den 1904 verabschiedeten Zusatz Theodore Roosevelts zur Monroe Doktrin, der den Vereinigten Staaten in Lateinamerika das Vorrecht zugesteht, in Krisenfällen die „Rolle einer internationalen Polizeimacht“ auszuüben. Als der mexikanische Präsident Calles Versuche unternimmt, die Ausbeutung der Erdölvorkommen seines Landes durch die USA einzuschränken, drohen die Vereinigten Staaten so massiv mit einer militärischen Intervention, daß ihm keine Wahl bleibt, als Amerika weiterhin freie Hand auf den mexikanischen Ölfeldern zu gewähren. 1924/25 landen US-Truppen in Honduras, um anti-amerikanische Tendenzen im laufenden Wahlkampf zu unterbinden. Auch in Nicaragua beginnt sich Mitte der zwanziger Jahre eine nationale Befreiungsbewegung zu formieren, die für die Unabhängigkeit vom amerikanischen Imperialismus kämpft. 1927 setzten US-Soldaten dem ein Ende. Die amerikanische Wirtschaft floriert, gewaltige Kapitalströme fließen aus den Vereinigten Staaten als Investitionen Richtung Süden. Als Schutzschild, das Amerika vor seine Kapitalanhäufungen auf dem südlichen der amerikanischen Kontinente hält, dient die Monroe Doktrin.

Doch auch im eigenen Land sprudelt das Geld frei und ungehindert. Mit nur zehn Cents in der Hosentasche kann man sich 1929 bereits eine Aktie kaufen. Blauäugig leeren gerade viele Amerikaner am unteren Ende des Einkommensspektrums mit ungebrochenem Urvertrauen in die Stärke ihres Landes den Inhalt von Sparstrümpfen in den Aktienmarkt. Kellnerinnen und Kassiererinnen werden zu stolzen Besitzerinnen von Wertpapieren.

In dieser Euphorie des mittel- und unterständischen Wohlergehens will niemand das Donnergrollen am Horizont hören.

Am Morgen des 29. Oktober starren die Wertpapierhändler im Börsensaal an der New Yorker Wallstreet mit panikfeuchten Händen auf den Zeiger der Uhr, der mit quälender Langsamkeit auf die Zehn zurückt. Seit dem letzten Donnerstag hat sich ihre Welt verändert. Der Aktienmarkt ist ins Rutschen gekommen. Nach dem ersten Einbruch am 24. Oktober und weiteren katastrophalen Kurseinbrüchen am darauffolgenden Montag ist unter den Aktionären im Land eine Panik ausgebrochen. Als nun der Gongschlag die Sitzung eröffnet, schießen die Blicke von der Uhr zum Kursticker. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich, als die ersten Abschlüsse getätigt werden — die Kurse fallen weiter, fallen ins Bodenlose. Bereits am Mittag haben 8 Millionen Aktien den Besitzer gewechselt, ein Volumen, das alle bisherigen Rekorde bricht. Insgesamt lösen sich während des Börsencrashes 15 Milliarden Dollar in Luft auf. Als das volle Ausmaß der Verluste bekannt wird, erfasst eine Todeswelle das Land. Geschäftsleute erliegen Herzanfällen, Spekulanten springen aus Hotelzimmerfenstern, Makler drehen den Gashahn auf, Aktionäre schlucken Gift oder greifen zur Pistole. Der Traum, den hunderttausende amerikanischer Anleger vom Wohlstand geträumt haben, ist zerplatzt wie eine Seifenblase.

Das stolze Land, das sich eben noch in Lebensfreude und Stolz gesonnt hat, schaut nun auf die Trümmer seiner Selbstherrlichkeit. Neu gebaute Wolkenkratzer in New York und Chicago ragen wie hohle Zähne in den Himmel — Firmen, die sich die hohen Mieten leisten können, gibt es nicht mehr. Selbst eine Sekretärin wird zum unerschwinglichen Luxus. Endlos reihen sich die Schlangen der leeren Trucks und warteten vergeblich auf Ladung. Am schlimmsten aber trifft es die Farmer. Ihre Produkte kann niemand mehr kaufen. Um ein weiteres Sinken der Agrarpreise zu verhindern, kippen sie die Milch in die Flüsse, töten das Vieh und stecken die Äcker in Brand. Auch der Außenhandel der USA kommt zum Erliegen. In den Jahren zwischen 1929 und 1932 verringert er sich um fast 70 %. Güter, die gehandelt werden können, gibt es nicht mehr. In den Großstädten hungeren die Arbeitslosen. Waren Ende 1930 noch über vier Millionen Amerikaner ohne Arbeit, so zählt man im November 1932 schon 11 Millionen. Für sie gibt es weder Arbeitslosengeld noch eine soziale Absicherung. „Wer arm ist, hat selber Schuld“, glauben immernoch viele Amerikaner. Das Heer der Arbeitslosen ist auf 14 Millionen angewachsen, als im März 1933 Franklin Delano Roosevelt das Präsidentenamt übernimmt und von einem „New Deal“ spricht — dem Volk das Versprechen gibt, die Karten neu zu mischen.

Roosevelt ist durch eine Kinderlähmung seit dem vierzigsten Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt. Doch die Hilflosigkeit, die Unbeweglichkeit bekommt das amerikanische Volk in den 12 Jahren seiner Präsidentschaft nie zu sehen — die Presse hält sich an die ungeschriebene Regel, Roosevelt in Bildern niemals als behinderten Mann darzustellen. Was man sieht, ist der stiernackige Kämpfer, der das Land siegessicher aus einer der dunkelsten Zeiten seiner Geschichte führt. Er ist der Held nach all den Jahren der Heldenlosigkeit. Das Volk liebt ihn — liebte ihn so sehr, daß es ihn 1936 wiederwählt — und nocheinmal 1940 — und schließlich ein drittes Mal 1944. Amerika ist sich einig. Die Regierungsjahre Roosevelts sind eine der wenigen Zeiten in der amerikanischen Geschichte, in denen das Land nicht zwei Gesichter hat, sondern nur ein einziges, das mit dankbaren, bewundernden Augen zu ihm aufschaut. Augen, die nun wieder mit der gewohnten Selbstsicherheit in die Ferne blicken können. Seine Methoden sind oft unkonventionell, seiner Phantasie zur Schaffung von Arbeitsplätzen sind keine Grenzen gesetzt. Die Menschen Straßen bauen und Bäume planzen zu lassen ist eine einfache Übung. Aber um arbeitslose Lehrer, Historiker und Journalisten zu beschäftigen fasst er diese zusammen und gibt ihnen den Auftrag, einen mehrere hundert Bände umfassenden Reiseführer über die Vereinigten Staaten zu schreiben.

Selbst Nationalfeiertage sind vor dem Rooseveltschen Organisationstalent nicht mehr sicher. Traditionell fällt Thanksgiving, das amerikanische Erntedankfest, auf den letzten Donnerstag im November. Nun ergibt es sich, daß im Jahr 1939 der November fünf Donnerstage statt wie sonst vier hat. Da aber die Weihnachtssaison in den Vereinigten Staaten erst nach Thanksgiving beginnt, könnte der Einzelhandel auch erst nach diesem sehr spät gelegenen letzten Donnerstag im November damit beginnen, den weihnachtlichen Kaufrausch einzuläuten. Das Gespenst des Umsatzverlustes klopft bereits an die vereisten Schaufensterscheiben. Kein Problem für Roosevelt — er läßt erklären, daß fortan Thanksgiving strikt auf den vierten Donnerstag des Monats zu fallen habe.

Trotz aller Kreativität glingt Franklin Delano Roosevelt jedoch nicht, was er seinem Volk versprochen hat: die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. In den ersten fünf Jahren seiner Regierungszeit sinkt die Quote zwar auf den Stand von 1932, eine wirkliche Entspannung des Arbeitsmarktes bedeutet dies aber nicht. Erst als im fernen Europa Adolf Hitler den zweiten Weltkrieg entfesselt und aus Großbritannien und Frankreich die Nachschubforderungen in den USA einzulaufen beginnen, kann das Heer der Arbeitslosen zurück in die Fabriken strömen. „Wir müssen“, so Roosevelt, „das Waffenarsenal der Demokratie sein.“

Die Entscheidung, nicht nur Waffen zu liefern, sondern die selbstgewählte Isolation aufzugeben und sich mit Gebrüll in einen weiteren internationalen Krieg zu stürzen, fällt am klirrenden Winternachmittag des 7. Dezember 1941. Die Nation hat sich gerade vor ihren Radioempfängern zusammengedrängt, um dem sonntäglichen Konzert der New Yorker Philharmoniker zu lauschen. Als die ersten Takte eines Konzertes von Schostakovich erklingen, unterbricht plötzlich ein Knistern die Harmonien, und eine atemlose Stimme verkündet stockend: „Die Japaner haben Pearl Harbor angegriffen“. Mit diesem Angriff auf den hawaiianischen US-Flottenstützpunkt hat niemand gerechnet.

Die amerikanische Pazifikflotte wird damit praktisch entkernt. 5 Schlachtschiffe, 3 Kreuzer und 4 Zerstörer liegen zerbombt im Hafenbecken, drei weitere dümpeln schwer beschädigt daneben. Dies nehmen die USA zum Anlaß, sich nun mit Vehemenz in den zuvor so distanziert betrachteten Krieg zu werfen. 1944 übersteigt die amerikanische Kriegsproduktion diejenige aller insgesamt am Krieg beteiligten Länder — Freund wie Feind — und erreicht 235 Prozent des Vorkriegsstandes. Als wahre Wunder dieses Produktionseifers entpuppen sich unförmige schwimmende Badewannen, die unter dem Namen „Liberty-Schiffe“ den Atlantik überqueren sollen. Gebaut werden sie von Henry Kaiser, einem Architekten, der niemals zuvor ein Schiff entworfen hat. „Bug“ und „Heck“ sind für Kaiser Fremdwörter, seine Schiffe haben nur ein „vorne“ und ein „hinten“. Die Liberty-Schiffe haben kein Notstromaggregat und keinen Feuermelder, und als Eisen knapp wurde, kürzt man die Ankerketten. Einige von ihnen sind so See-untauglich, daß sie bereits tausende von Meilen vor dem Feind in den Fluten versinken. Aber sie haben zwei große Vorteile. Die einzelnen Teile dieser Schiffe lassen sich ohne Probleme auch von ungelernten Arbeitern zusammensetzen. Von Kaisers Schiffsbauern haben nur zwei aus hundert jemals eine Werft von Innen gesehen, aber daß Bauteil A-1 an Bauteil A-2 geschraubt weden muß, verstehen auch sie. Und die Liberty-Schiffe können in großer Anzahl innerhalb kürzester Zeit hergestellt werden.

Der entscheidende Durchbruch in eine neue Dimension der Kriegsführung gelingt den USA jedoch mit dem Bau zweier Objekte, die sie harmlos als „Kleinen Jungen“ und „Fetten Mann“ bezeichnen — die beiden Atombomben, deren Abwürfe das Ende des Zweiten Weltkrieges markieren werden. Neben der konventionellen Massenproduktion von Kriegsmaterial, mit der Amerika zur gigantischen Naschubbasis der Alliierten wird, sind es vor allem die ersten Schritte in das Neuland der Nuklearphysik, die das Land an die Spitze der Weltmächte bringen. In allen Landesteilen wird fieberhaft an dieser neuen Technologie gearbeitet. Die Universität Chicago baut den ersten Nuklearreaktor, der im November 1942 fertiggestellt wird. Zur Entwicklung der Gasdiffusion entsteht in Oakridge, Tennessee, eines der größten geschlossenen Gebäude der Welt, 17 200 überdachte Quadratkilometer. Das waffenfähige Uran wird in Hanford, Washington produziert.

Die Inspiration kommt jedoch aus der Alten Welt. Bereits im Sommer 1939 hatte eine handvoll Wissenschaftler verzweifelt versucht, die Aufmerksamkeit Roosevelts zu erregen, um ihn vor der neuen Generation von Waffen zu warnen, mit denen in deutschen Labors geliebäugelt wurde. Viele dieser Wissenschaftler sind jüdischer Herkunft und haben sich in Vorrausahnung der Ereignisse mitsamt ihrem Wissen über Nukleartechnologie in die Vereinigten Staaten ins Exil begeben. Diese Flucht verschafft Amerika den entscheidenden Vorteil im Wettlauf um die Herstellung der apokalyptischen Waffen. Um eine Förderung dieses Projektes, das unter dem Codenamen „Manhattan Projekt“ in die Geschichte eingeht, zu bewilligen, bedarf es jedoch des Traumas der Bombardierung von Pearl Harbor. Es sind indirekt die Japaner, die den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der Atombomben geben, und über Japan werden sie im August 1945 gezündet. Dresden, Hamburg und Berlin bleiben verschont, weil Deutschland bereits kapituliert hat, als im Juli des Jahres die Welt zum ersten Mal das Licht einer Atombombe erblickt. In der Wüste Neu Mexikos, in einem Meer aus Sand, das von den frühen spanischen Siedlern den prophetischen Namen jornada del muerto — Reise in den Tod — bekommen hatte, wird am Morgen des 16. Juli um 5:29 und 45 Sekunden der Auslöser für die Testbombe gedrückt. Rund drei Wochen später wiederholt sich diese Generalprobe als Premiere — am 6. August am Himmel über Hiroshima und am 9. August über Nagasaki. Der zweite Weltkrieg endet mit einer Demonstration der amerikanischen Macht, die sich in den Explosionen zweier Blitze — „heller als tausend Sonnen“ — entlädt. „America first!“ steht nun endlich deutlich für alle Welt lesbar in den Himmel geschrieben.

Erschienen als Teil der Serie „Der Aufstieg Amerikas — Von der Kolonie zur Großmacht“, stern 10/2002