Der Große Graben

Die beiden Männer stehen geschockt am Abgrund des großen Grabens und blicken hinunter auf die Erdmassen, die soeben in einer brüllenden Lawine aus rutschendem, schlitterndem Geröll die Grabungsarbeit von Monaten vernichtet haben. „Was sollen wir nun machen?“, fragt Major Gaillard mit belegter Stimme. Chefingenieur Goethals zündet sich eine Zigarette an. „Nun…“, gibt er trocken zurück, „es wieder ausgraben.“

Im Januar 1912, als der Erdrutsch, einer der schlimmsten beim Bau des Panama-Kanals die Bauleiter zur Verzweiflung treibt, ist das Ende der Arbeiten bereits absehbar. Zwei Jahre wird es noch dauern, bis das erste Schiff die Landenge zwischen Nord- und Südamerika passiert. Dann werden insgesamt knapp 250 Millionen Kubikmeter Erde bewegt worden sein. Genug Sand und Steine und Lehm, um einen Wall von der Breite und Höhe der Großen Chinesischen Mauer von New York bis San Francisco aufzuschütten. Oder 63 Pyramiden zu errichten, die der Cheops-Pyramide in Gizeh in Größe nicht nachstünden. Oder einen Zug von Eisenbahnwaggons zu füllen, der vier Mal um den Äquator reichte. 61 Millionen Pfund Dynamit werden gezündet, um den Graben von Küste zu Küste zu sprengen. Deren Explosivkraft übersteigt diejenige aller Munition, die Amerika in sämtlichen bis zu diesem Zeitpunkt geführten Kriegen verschossen hat.

Der kleine Streifen Land, durch den der Graben verläuft, ist eines der elendsten Löcher Mittelamerikas. Die schwüle Feuchtigkeit überzieht alles mit einem klammen Film aus Nass, kriecht in jede Nische, druchdringt jedes Material. Werkzeuge aus Metall werden über Nacht rot vom Rost. Bücher, Kleidung und Schuhe sind binnen Stunden von einem grünlichen Schimmelflaum überzogen. Mücken, Malaria und Gelbfieber plagen die Menschen. Doch in diesem verseuchten Streifen Land suchen wagemutige Europäer bereits seit 1513 nach der geeigneten Stelle für einen Durchbruch, für einen Kanal, der Pazifik und Atlantik verbindet und so allen Kriegs-, Handels- und Passagierschiffen die lange, teuere, und schwierige Umschiffung des südlichen Amerika erspart.

Die Franzosen mühen sich von 1880 bis 1894. Die Compagnie Universelle du Canal Interocéanique scheitert jedoch kläglich. Die Toten dieser Jahre werden nie gezählt. Billige einheimische Arbeitskräfte gibt es ja genug. Waggonweise werden die Leichen aus den Städten zu den abseits gelegenen Friedhöfen abtransportiert. „Begraben, begraben, begraben“, erinnert sich Zeitzeuge S. W. Plume, „zwei, drei, vier Züge am Tag, randvoll mit toten Niggern.“ 1894 ist die Compagnie am Ende.

Als Frankreich aufgibt, ist die Zeit reif für Amerika. Ganz entschieden hat sich das Land noch nicht, welche Route es für den Kanal wählen soll — die durch die nordkolumbianische Provinz Panama, an der sich die Franzosen die Zähne ausgebissen haben, oder eine nördlichere durch Nicaragua? Der trickreiche Philippe Bunau-Varilla, einer der Hauptaktionäre der französischen Compagnie schickt jedem US-Senator eine nicaraguanische Ein-Centavo-Briefmarke, auf der der feuerspeiende Vulkan Momotombo zu sehen ist. Eine eindeutige Warnung. Der Plan geht auf. 42 der 76 Senatoren stimmen für die französische Route, und die USA kaufen auf, was von der Compagnie noch übrig ist.

Auch die Regierung Kolumbiens will von dem Bauvorhaben profitieren, doch ihre Forderungen sind zu hoch. Amerika positioniert seine Flotte zu beiden Seiten der panamesischen Küste und lässt Bodentruppen entlang der geplanten Kanalroute aufmarschieren. Panama erklärt seine Unabhängigkeit. Doch unabhöngig ist es nur vom Mutterland Kolumbien. Als der spätere Präsident William Howard Taft ein Jahr später den Kanal besucht, sind die Truppen, die der junge Staat selber stellen kann, noch immer nicht viel mehr als „eine Armee, die auf eine Opernbühne passte“. Ernsthafte Verhandlungen der Regierung Panamas mit den USA über Bodennutzungsrechte finden nicht einmal pro forma statt. Washington diktiert die Bedingungen und unterstellt den Kanal für 99 Jahre amerikanischer Hoheit.

1914 ist das Weltwunder der Neuzeit fertig. Doch als am 3. August ein kleines Frachtboot namens „Cristobal“ als erstes Schiff den Panamakanal durchquert, findet man die Meldung in den Zeitungen des nächsten Morgens weit auf die hinteren Seiten zurückgedrängt. Denn am Abend eben jenes 3. August 1914 brach in Europa ein Krieg aus, dessen bedrohliche Schatten die kleine „Cristobal“ trotz aller Superlative im Dunkel der Bedeutungslosigkeit verschwinden ließen.

Erschienen als Teil der Serie „Der Aufstieg Amerikas — Von der Kolonie zur Großmacht“, stern 9/2002