In den Händen der Hisbollah

Eigentlich wollte der Hoechst-Manager Rudolf Cordes bereits am 16. Januar nach Beirut fliegen, doch die Maschine fiel wegen eines Triebwerkschadens aus. Mit einer Mitarbeiterin am Schalter der Fluggesellschaft bespricht er die Alternativen: entweder noch am selben Abend über Damaskus nach Beirut oder am nächsten Tag direkt. Cordes wählt den Direktflug. Das wird ihm zum Verhängnis.

Abbas Hamadi, der hinter dem Manager in der Reihe steht, hört mit. Man schreibt das Jahr 1987. Hamadis Bruder Mohammed war gerade wegen Teilnahme an der Entführung eines TWA-Fluges verhaftet worden. Abbas Hamadi nimmt die Maschine über Damaskus und nutzt den Zeitvorsprung, um Cordes am nächsten Tag auf dem Weg vom Beiruter Flughafen in die Innenstadt abzufangen, zu kidnappen, und so der Forderung nach Freilassung seines Bruders Nachdruck zu verleihen. Drei Tage später bringen Hisbollah-Kämpfer auch den Siemens-Techniker Alfred Schmidt in ihre Gewalt. Am 26. Januar schließlich wird auch Abbas Hamadi verhaftet. Damit steht es zwei Häftlinge gegen zwei Geiseln, zwei Freiheiten gegen zwei Leben.

Über sieben Monate lang, bis zur Freilassung Schmidts, werden die beiden Deutschen gemeinsam in den verdunkelten Verstecken der Entführer verbringen, viereinhalb davon an den Fußgelenken aneinandergekettet.

Rudolf Cordes und Alfred Schmidt waren lukrative Geiseln. Die Firma Siemens heuert, nachdem verschiedene Vermittlungsversuche der libanesischen Regierung gescheitert sind, den zwielichtigen Privatdetektiv Werner Maus an und lässt durch seine Hände Millionen fließen, um im September 1987 Alfred Schmidt freizukaufen. Beeindruckt von diesem Erfolg wendet sich auch Hoechst an Maus. Doch diesmal dauert es länger. Erst ein Jahr später lassen die Geiselnehmer auch Cordes gehen.

Am 16. Mai 1989 schlägt die Hisbollah wieder zu. Heinrich Strübig und Thomas Kemptner, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Asme, werden in der Nähe der südlibanesischen Stadt Sidon als „Ersatz“ für Cordes und Schmidt gekidnappt. Ihr Schicksal gerät bald in Vergessenheit. Während in Deutschland die Mauer fällt und das Sowjetreich zerbricht, schmachten sie aneinandergekettet im Libanon. Weder ein aufgebrachtes Vaterland noch eine millionenschwere Firma kümmern sich um die beiden. Von den weltbewegenden Ereignissen in der Heimat erfahren Strübig und Kemptner erst an ihrem dritten Heiligen Abend in Geiselhaft. Die Entführer machen Videoaufnahmen. Zum Beweis, dass es ein aktuelles Lebenszeichen ist, lassen sie ihre Gefangenen in einer aktuellen „Spiegel“-Ausgabe blättern. Die lesen dort von „thüringischen Abgeordneten“ und „sächsischen Produkten“ und verstehen die Welt nicht mehr.

Die problemlose und unbürokratische Hilfe, die Cordes und Schmidt erfahren haben, bleibt Strübig und Kemptner versagt. Vermittlungsversuche scheitern an der starren Haltung der Regierung, zwei Jahre lang werden die beiden Asma-Mitarbeiter gar nicht als Geiseln anerkannt. Den Kindern von Heinrich Strübig wird sogar das BaföG verweigert, weil sie die Unterschrift des Vaters nicht vorlegen können. Als Thomas Kemptner nach seiner Freilassung Arbeitslosengeld beantragen will, wird sein Antrag abgelehnt, weil „1128 Tage Geiselhaft ohne Einzahlung“ keine anerkannte Vorbeschäftigung seien.

Heinrich Strübig söhnte sich, wenn schon nicht mit den deutschen Behörden, so wenigstens mit seinen Entführern aus. 1996 reichte er ihnen im Libanon die Hand. In einem Brief bedankte sich die Familie Hamadi für Strübigs versöhnliche Haltung: „Unsere Familie heißt sie jederzeit herzlich willkommen und wir erkennen sie als einen Bruder an. Wir danken ihnen für alles und hoffen von Gott dem Allmächtigen, dass wir uns bald treffen. Mit freundlichen Grüßen, Familie Hamadi, Beirut — Libanon.“

Erschienen als Teil der Serie „Mohammeds zornige Erben“, stern 50/2001