Die zweite Front im Golfkrieg

Im „Dharan International Hotel“ in Saudi Arabien trafen sich während des Golfkrieges die Reporter und Fotografen der internationalen Medien – gestandene Männer und Frauen, die im Leben schon in viele Gewehrmündungen geblickt und mit ihren Kameras die Gesichter etlicher Leichen festgehalten hatten. Doch in diesem Krieg bekamen sie unter der strengen Zensur des Pentagon weder Gewehrmündungen noch Leichen zu sehen. „Es war ein Ferienlager“, beschrieb CBS-Produzentin Lucy Spiegel die Stimmung vor Ort.

Der Golfkrieg wurde zu großen Teilen nicht am Golf ausgetragen. Er entstand vor allem an den Schreibtischen der Medienzentren, wo die Nachrichten, die von der Front nicht kamen, erdacht und gemacht wurden.

So zum Beispiel die Geschichte der kuwaitischen Babys, die von Invasionstruppen der Iraker brutal aus ihren Brutkästen gerissen und zum Erfrieren auf dem kalten Steinfußboden verdammt wurden. Sie tauchte zum ersten Mal am 5. September 1990 im Londoner „Daily Telegraph“ auf. Dort hieß es, der im Exil lebende kuwaitische Innenminister Yahya Al Sumait habe behauptet, daß „in der Frühgeburtenabteilung eines Krankenhauses die Babys aus ihren Brutkästen genommen wurden.“ Zwei Tage später veröffentlichte die „Los Angeles Times einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuter, in dem eine anonyme „Cindy“ aus San Francisco die Story mit auffallend ähnlichen Worten wiedergab.

Die wohl rührendste Fassung der Geschichte lieferte jedoch aufgrund ihrer Jugend die fünfzehnjährige „Nayirah“, die auf einer Tagung des Arbeitskreises für Menschenrechte von der Agentur Hill and Knowlton präsentiert wurde: Sie habe die Ermordung der Frühgeburten während ihres freiwilligen Dienstes im Al Addan-Hospital mit eigenen Augen gesehen. „Nayirah“ weigerte sich, ihren Nachnamen preis zu geben, angeblich um Verwandte und Freund in Kuwait vor Repressalien zu schützen. Dabei wäre gerade ihr Nachname ein pikantes Detail gewesen: Ihr Vater war zu jener Zeit der Botschafter Kuwaits in den Vereinigten Staaten, und Nayirah alles andere als eine unparteiische Zeugin.

Etliche Fernsehsendungen und Zeitungsartikel griffen die Aussagen von „Cindy“ und „Nayirah“ unhinterfragt auf, ohne sich an der Anonymität der beiden Frauen zu stören. Der Höhepunkt der Greueltaten wurde in einem Bericht von Amnesty International über Menschenrechtsverletzungen in Kuwait am 19. Dezember erreicht. Darin war die Anzahl der unschuldigen Opfer auf „über 300“ angewachsen. Am 15. Februar 1991, einen Monat nach Beginn der alliierten Luftangriffe auf den Irak, wurde die herzerweichende Baby-Tragödie sogar vom damaligen Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Dan Quayle, zitiert: „Es gibt Bilder, von denen Sadam möchte, daß wir sie nicht sehen. Bilder von Frühgeburten in Kuwait, die aus ihren Brutkästen geworfen und dem Tod überlassen wurden.“

Bei genauerer Recherche nach dem Krieg fand sich keine einzige kuwaitische Familie, die ein von Irakern aus dem Brutkasten gezerrtes Kind betrauerte. Amnesty dementierte den Bericht – ohne Erfolg. Die Geschichte der erfrorenen Frühgeburten hatte sich bereits seinen festen Platz in der öffentlichen Wahrheit erobert.

„Verglichen mit der Nachrichtenpolitik im Golfkrieg war die Nazi-Wochenschau ein Dokumentarfilm“ schreibt Fritz Raddatz am 8. März 1991 in der „Zeit“. Die amerikanische Öffentlichkeit sorgte sich dagegen auf ganz andere Weise um die Nachrichtenpolitik der Medien. Die meisten Leserbriefe, die während des Golfkrieges bei dem Sender NBC eingingen, beanstandeten mangelnden Patriotismus in der Berichterstattung.

Erschienen als Teil der Serie „Mohammeds zornige Erben“, stern 48/2001