Es roch immer ein wenig nach Abenteuer. Unter dem Duft von kaltem Zigarettenrauch und den letzten Spuren von Waschmittel lag noch dieser feine, unwiderstehliche Hauch verwegener Freiheit. Das Palästinensertuch umzuwickeln war ein Ritual: Die Zipfel vorn am Hals feststecken und wissen, es kann losgehen.
Das Palästinensertuch war in den 70er und 80er Jahren nicht einfach ein Kleidungsstück. Es war Erkennungsmarke unter Gleichgesinnten und Affront für Andersdenkende, Einheitstracht der Friedensbewegung und Symbol für zivilen Ungehorsam. Doch wie kam eine Kopfbedeckung, die in der westlichen Zivilisation so fremd ist wie ein Indischer Elefant auf dem Kirchplatz von Königs Wusterhausen, an die Hälse der deutschen Jugend?
Der Begriff Palästinensertuch ist ein Neologismus der 70er Jahre. In seiner arabischen Heimat ist das Tuch bekannt als Kefije. Es dient den Arabern bei Tag als Sonnenschutz für Kopf und Nacken, in kalten Wüstennächten hält es warm, und bei Sandsturm schützt es das Gesicht. Gehalten wird es von einer doppelt um den Kopf geschlungenen Kordel aus Wolle oder Kamelhaar, Agal genannt. Ursprünglich konnte man an der Kefije schon von weitem erkennen, zu welchem Stamm ein Araber zählte. Hatte sie eine feine rote Musterung auf weißem Untergrund, handelte es sich um einen Haschemiten. War das Muster fein, aber schwarz, konnte man sich darauf verlassen, es mit einem Beni-Sad aus dem Süden der Arabischen Halbinsel zu tun zu haben. Die saudischen Stämme verwendeten gern das reine Weiß. Nur die gron schwarzweiß gemusterte Kopfbedeckung verriet den Palästinenser. Bekanntester Träger der Kefije ist der Palästinenserführer Jassir Arafat, den man in der Öffentlichkeit nie ohne sein grob gemustertes schwarzweißes Tuch sieht.
1969/70 trat das Palästinensertuch seinen Siegeszug durch Deutschland an. Der Brückenschlag wurde von Mitgliedern der Palästina-Komitees gemacht, die aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) hervorgegangen waren. Sie brachten die Tücher von ihren Reisen in die Ausbildungscamps der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) mit , sagt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. So waren es zuerst nur kleine, radikale Splittergruppen, die sich das Tuch um den Hals und im Ernstfall – wenn es galt, das Antlitz vor Polizei und Presse zu verbergen – auch um den Kopf und vor das Gesicht banden. Das Palästinensertuch war dabei nicht nur vermummungstauglich, die traditionelle rote oder schwarze Musterung lag auch ganz auf der farblichen Linie anarchistischer und linker Gruppierungen.
Mitte der 70er Jahre ging die Bindung des Palästinensertuches zum Nahen Osten verloren, es wurde zum Einheitskleidungsstück der politisch engagierten Jugend. Die Atomkraftgegner trugen es. Die Friedensbewegung trug es. Das Palästinensertuch schützte vor dem kalten Nieselregen von Brokdorf und dem schneidenden Wind an der Startbahn West. Es wärmte im rauen Klima des Deutschen Herbstes.
Seine Symbolkraft als Zeichen für die latente Gewaltbereitschaft hatte das Palästinensertuch mit dem Wandel zum öko-pazifistischen Einheitswickel verloren. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Leute, die es trugen, immer jünger, bemerkt Kraushaar. Das Tragen des Palästinensertuches wurde zum romantischen Spiel mit der Illegalität. Sogar zum Museumsexponat hat es die Kefije gebracht. Im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, in der Abteilung 1974 bis zur Gegenwart, zählt ein Palästinensertuch zu den Austsellungsstücken. Es war prototypisch für Mitglieder der Protestbewegung und sorgte als Accessoire für Außenkennung , begründet die wissenschaftliche Mitarbeiterin Helene Thiesen das Vorkommen eines arabischen Kleidungsstückes in einem deutschen Museum.
Und heute? In der Herbst-/Winterkollektion 2001/2002 ist das Palästinensertuch Bestandteil der Mode von Christian Dior und Gianfranco Ferré. Es ist wohl eine Spielerei, Erinnerung an den Nervenkitzel von damals, mutmaßt Wolfgang Kraushaar. Dieser feine, unwiderstehliche Geruch nach Freiheit und Abenteuer, erhängt eben dem Palästinensertuch noch heute an.
Erschienen als Teil der Serie Mohammeds zornige Erben, stern 48/2001