Anschlag auf Olympia

Am Abend des 4. September 1972 — die Dunkelheit war schon hereingebrochen — schraubte sich ein dürres Mädchen über eine 1,92 m hohe Latte und riss im Siegestaumel die Arme nach oben: Sie hatte soeben den Weltrekord im Hochsprung eingestellt und olympisches Gold geholt. Ulrike Meyfahrt war an jenem Tag 16 Jahre alt. Während sie sprang, trafen acht nur wenig ältere Männer — Mitglieder der palästinensischen Organisation „Schwarzer September“ — die letzten Vorbereitungen für den nächsten Morgen, an dem sie in das olympische Dorf eindringen, zwei israelische Sportler ermorden und neun weitere als Geiseln nehmen würden.

Im Morgengrauen klettern sie über den Zaun und stürmen das Haus Conollystraße 31. Der Trainer der israelischen Ringermannschaft, Moshe Weinberg, erkennt die Gefahr und wird erschossen. Bei dieser kurzen Schießerei wird auch der Gewichtheber Joseph Romano getroffen, er verblutet qualvoll. Es dauert bis kurz vor sieben, bis die ersten Verhandlungen zwischen Terroristen und dem Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, dem bayrischen Innenminister Bruno Merk, dem Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber und dem Bürgermeister des olympischen Dorfes Walther Tröger beginnen. Der Preis für die Freiheit der Geiseln ist hoch: Freilassung von über 200 in Israel inhaftierten Palästinensern und ungehinderter Abzug der Terroristen über den Luftweg in ein Land ihrer Wahl. Zur selben Zeit tanzen auf der Dressurbahn die Pferde mit weiß umwickelten Fesseln und geflochtenen Mähnen ihre einstudierten Figuren.

Die Olympischen Spiele werden am frühen Nachmittag unterbrochen, die Verhandlungen um neun Menschenleben und 200 Gefangene dauern an. Aus Israel kommt eine klare Antwort: Auf keinen Fall werde man den Forderungen der Geiselnehmer nachgeben. Damit liegt das Schicksal der Israelis in deutscher Hand.

Zwei BGS-Hubschrauber bringen gegen 22 Uhr Terroristen und Geiseln zum Militärflughafen Fürstenfeldbruck, wo eine Lufthansa-Maschine bereitsteht. Angebliches Ziel: Kairo. Als zwei der Terroristen das Flugzeug inspizieren, eröffnen Scharfschützen das Feuer. Was in den Stunden zwischen diesen ersten Schüssen und dem letzten um 1:32 Uhr geschah, ist nicht genau bekannt. Der Chef des israelischen Geheimdienstes, der gleich nach der Geiselnahme eingeflogen war und die Aktivitäten sowohl im olympischen Dorf als auch in Fürstenfeldbruck miterlebt hatte, bezeichnete es jedenfalls als „ausgesprochenen Dilettantismus“. Eines ist sicher: Die Meldung, die Regierungssprecher Conrad Ahlers kurz nach Mitternacht herausgab — „Die Aktion ist glücklich verlaufen“ — war falsch. Die Bilanz des 5. September 1972: elf tote israelische Sportler, ein toter deutscher Polizist, fünf tote palästinensische Attentäter und drei weitere, die noch am Leben waren.

In Israel kommt es zu heftigen antideutschen Reaktionen. Der israelische Innenminister Josef Burg kommentierte den Tod von elf Israelis unter deutscher Verantwortung mit den Worten: „Bis heute meinten wir immer, dass Dachau in der Nähe von München liege. Von nun an liegt München leider in der Nähe von Dachau.“ Israel traf eigene Maßnahmen zur Vergeltung. Als Antwort auf das Münchner Massaker wurden durch israelische Militäreinsätze mehr als 200 Personen in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon getötet. Zudem liquidierte der israelische Geheimdienst im Auftrag der Regierung Golda Meir mehrere Araber, die im Verdacht standen, in den Münchner Anschlag verwickelt zu sein. Erst nachdem in Norwegen eine Person fälschlich von Agenten des Mossad ermordet worden war, hörten die israelischen Vergeltungsschläge vorübergehend auf.

Liest man die Schlagzeilen der internationalen Presse aus den Tagen nach dem Olympia-Attentat, so ist die Vergilbung des Papiers der einzige Hinweis darauf, dass zwischen dem 5. September 1972 und dem 11. September 2001 29 Jahre liegen. Das US State Department nannte die Ereignisse damals schon einen „Anschlag auf die menschliche Gesellschaft“. Das „Manila Daily Bulletin“ schrieb 1972 von einem „Verbrechen an der Menschlichkeit“.

Erschienen als Teil der Serie „Mohammeds zornige Erben“, stern 47/2001