Hollywood am Nil

Als Sami Al-Salamuni, ein bekannter Filmkritiker der arabischen Welt, noch ein kleiner Junge war, in den 50er Jahren, ging er am ägyptischen Wochenende, also donnerstagabends oder freitagnachmittags, regelmäßig ins Kino. Sein Vater hatte die Karten vorbestellt und eilte stolz der Familie voraus. Samis Schwestern waren herausgeputzt mit Schleifen und Lackschuhen, die Mutter im eleganten Kostüm und Sami in seinem ersten Anzug. Während der Vorstellung lachte Sami über die vielen Gags, seine Schwestern weinten bei den Liebesszenen, und der ganze Saal sang die Lieder von Umm Kulthum, Mohammed Abdel Wahab und Abdelhalim Hafez mit. Das Kino war für viele Familien ein fester Bestandteil des Lebens. Es einte die arabischen Länder, beeinflusste das arabische Denken und diente zur Bildung und politisierung der Bevölkerung. Das ägyptische Kino habe die arabische Persönlickeit des 20. Jahrhunderts mitgeformt, meint der Filmkritiker Ibrahim Al-Aris. Es setzte sich für die Ausbildung der Jugend — insbesondere auch der Mädchen — und die Akzeptanz der Frauen ein.

Oft stieß das Filmschaffen auf scharfe Auflagen. Als der Schauspieler Yussef Wahbi 1926 den Propheten Mohammed spielen wollte, drohte ihm König Fuhad mit Ausweisung und dem Entzug der Staatsbürgerschaft, die Darstellung des Propheten sei haram – unstatthaft. 1947 gab die Regierung einen Katalog mit 64 Verboten heraus. Fortan durften keine schmutzigen Straßen, ärmliche Bauernhäuser, Frauen aus dem Volk oder Eselskarren mehr gezeigt werden. Der Regisseur Mohammed Karim hatte von sich aus bereits 1930 in seinem Film „Zeinab“ den Bauern, die er als Komparsen einsetzte, Schuhe angezogen, weil er sie nicht barfuß zeigen wollte. Karim wurde auch nachgesagt, dass er stets vor Beginn der Dreharbeiten Straßen, Kühe oder Bäume waschen ließ, damit sie frei von Staub wären. Und bis heute sprechen im ägyptischen Kino die Bauern meist nur Kairoer Großstadtdialekt.

Manchmal waren die Probleme auch ganz anderer Art. Als 1945 der Regisseur Kamil at-Telmessani in dem Film „Der Schwarzmarkt“ die Hungesnot von 1942 beschrieb, hatte er nicht bedacht, dass sein Publikum zum größten Teil aus eben jenen Schwarzmarkthändlern bestand, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zu Geld gekommen waren. Schon bei der Premiere zerschlugen sie den Kinosaal. Der Film wurde umgehend abgesetzt.

In den 60er Jahren wurde das Kino zunehmend politisiert. Das wohl berühmteste Beispiel ist der Film „Saladin“, den der große Regisseur Yussef Chahine 1963 drehte. Mit seinem Werk über das Reich Saladins zur Zeit der Kreuzzüge schuf er eine Parallele zum modernen Ägypten Nassers, der das Volk einen und die von Israel besetzten Gebiete befreien wollte. Nasser hatte stets eine Kopie dieses Films unter seinem Bett.

Heute versucht das ägyptische Kino wieder den Anschluss an die alten Glanzzeiten zu finden. Eine schwierige Aufgabe: Im Misr-Studio, das bei seiner Eröffnung 1935 auf dem modernsten Stand der Kinotechnik war, wurde seitdem „auch nicht eine Schraube erneuert“, so Yussef Chahine. Wurden noch 1988 in Ägypten 100 Filme produziert, waren es zehn Jahre später lediglich 16. In den 50er Jahren füllten sich jedes Wochenende 450 Kinosäle in ganz Ägypten. Heute sind es nur noch etwa 140. Auch die fahrenden Kinos, die die Filme in die kleinen Dörfer trugen, kommen nicht mehr. Mit dem Bau von neuen Studios, der „Media Production City“, unweit von Kairo, wird nun versucht, das Hollywood am Nil wiederzubeleben. Der jüngere ägyptische Film gibt sich positiv und optimistisch. „Wir haben genug Kritisches, Politisches gesehen“, sagt der Regisseur Chairi Bishara. Vielleicht können bald wieder kleine Jungen, wie damals Sami As-Salamuni, in den Kinos lachend lernen. Denn, so Regisseur Salah Abu Seif, „Humor ist die Seele Ägyptens“.

Erschienen als Teil der Serie „Mohammeds zornige Erben“, stern 46/2001