Wenn demnächst Reisende in der neuen Halle der Londoner Liverpool Street Station ihre Fahrkarten lösen, dürften sie kaum ahnen, dass sie auf einer riesigen Grabstätte stehen. Während der Bauarbeiten stießen die hinzugezogenen Archäologen schon bei ersten Testgrabungen auf fast hundert Skelette. Offenbar verbirgt sich dort der verschollene Friedhof des Bethlem Hospital, der ältesten psychiatrischen Klinik der Welt. Bis ins 19. Jahrhundert vergruben erst die Mönche, die das Klosterhospital betrieben, und später auch Anwohner an diesem Ort ihre Toten. Dabei gingen sie wenig pietätvoll zu Werk: Bis zu sechs Skelette wurden pro Kubikmeter beigesetzt. Gegründet im Jahr 1247, begann das Priorat St. Mary Bethlehem ab 1377 mit der Behandlung von psychisch Kranken. Die Therapie bestand darin, die Insassen an die Wand zu ketten und, wenn sie aufbegehrten, mit der Peitsche zu disziplinieren. Gegen ein Eintrittsgeld von einem Penny konnten Schaulustige sie sogar besichtigen. Erst ab 1770 wurden die psychisch Kranken als Patienten angesehen.
Erschienen in Prisma, Spiegel (Printausgabe) 18/2011.