Der Tod des Alten Drachen

Verfall und Dekadenz am Kaiserhof

Mit vierzehn Jahren hat Hong Xiuquan nur ein Ziel. Er will raus aus seiner kleinen Welt. Als das vierte von fünf Kindern einer armen Bauernfamilie aus Guanlubu hat er schon bei seiner Geburt im Jahr 1814 keine Zukunft. Zumal seine Eltern Hakka sind, eine ethnische Minorität aus dem Norden. Die Hakka-Frauen binden sich die Füße nicht ein wie andere Frauen, deshalb werden sie von den Han-Chinesen verachtet. Und Bauern stehen auf der niedersten Stufe in der chinesischen Sozialordnung, obwohl die Bauern in den konfuzianischen Schriften als die produktive Basis der Gesellschaft gepriesen werden. Ein Hakka und gleichzeitig Bauer zu sein heißt in der Realität, zum Abschaum des Abschaums zu gehören.

In der Welt des Hong Xiuquan gibt es keine Seife. Es gibt auch keine Toiletten, wer sein Geschäft verrichten muss, geht in den Schweinestall. Dafür gibt es Hunger, denn durch die Bevölkerungsexplosion ist der Ackerboden knapp geworden. Nach dem Tod des Familienoberhauptes erhält jeder Sohn einen gleichen Anteil – das Land ist mittlerweile in Kleinstparzellen aufgesplittert, die kaum eine Familie ernähren können. In nur hundert Jahren sinkt der Anteil des verfügbaren Bodens pro Kopf von 4,7 mu (etwa 3100 Quadratmeter) Mitte des 17. Jahrhunderts auf 2,9 mu um 1850. Und es gibt Angst. Furcht vor den Soldaten der Mandschu-Kaiser, die seit 1644 auf dem Drachenthron sitzen. Dieser Volksstamm, der aus der Steppe kam, stellt nur eine Minderheit von zwei bis drei Millionen – noch nicht mal ein Prozent der insgesamt etwa 430 Millionen Chinesen. Und doch regiert die Qing-Dynastie mit eiserner Hand. Sogar ihre Frisur dürfen die Chinesen nicht mehr frei wählen. Nach Mandschu-Sitte müssen die Männer sich den vorderen Teil des Schädels rasieren und das Haar im Nacken zu einem Zopf flechten. Wer keinen Zopf trägt, wird um den Kopf kürzer gemacht.

Aus diesem elendigen Leben gibt es für Hong Xiuquan einen Ausweg. Er könnte den Shengyuan-Grad erreichen, den ersten Schritt auf der Karriereleiter eines Beamten. Und das wäre erst der Anfang. Die Beamtenlaufbahn könnte ihn den ganzen langen Weg bis hinein in die Verbotene Stadt des Kaisers führen. Zwar sind die Gehälter der Staatsangestellten alles andere als üppig, doch der Beamtenstatus bringt gewisse Privilegien mit sich. So dürfen schon die Shengyuan – im Grunde genommen nichts besseres als niedere Ortsvorsteher – Abzeichen tragen, die ihre Rolle im Dorf hervorheben, und werden vor Gericht von der Prügelstrafe ausgenommen. Hinzu kommen die Bestechungsgelder, die für pralle Taschen sorgen. Und vor den Prüfern der Mandschu sind alle gleich. Egal ob Hakka oder Han, egal ob von der südlichen Küste oder aus der Steppe im Norden, allen steht – zumindest theoretisch – der Weg in ein besseres Leben offen, unabhängig von sozialer oder geografischer Herkunft. Quoten regeln den Beamtenzuwachs für die einzelnen Provinzen.

Als der Tag der Prüfung gekommen ist, erwacht Hong Xiuquan im 50 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernten Guangzhou um drei Uhr Morgens von einem Kanonendonner. Es ist das Zeichen für die Anwärter, sich zur Prüfungshalle aufzumachen. Die ist mit einer hohen Mauer von der Außenwelt abgeschirmt, damit keiner der Prüflinge einen Betrugsversuch unternehmen kann. Beim zweiten Kanonenschlag steht Hong Xiuquan mit den anderen Kandidaten für eine Beamtenlaufbahn vor dem schweren Tor. Sie alle haben Schreibutensilien dabei und einen großen Korb mit Proviant. Denn für die nächsten drei bis vier Tage werden sie den Prüfungskomplex nicht verlassen dürfen – so lange, bis alle Arbeiten gelesen, bewertet und das Ergebnis bekannt gegeben worden ist. Mit dem dritten Donner öffnen sich die Türen und die Prüflinge strömen auf ihre Plätze. Trennwände zwischen den einzelnen Examens-Zellen schirmen die Kandidaten streng voneinander ab.

In den folgenden Stunden müssen sie Aufsätze und Gedichte schreiben. Vor allem aber kommt es darauf an, die Grundwerke des Konfuzianismus zu kennen: Lunyu „Gespräche des Konfuzius“, Mengzi „Meister Meng“, Yijing „Buch der Wandlungen“, Shujing „Buch der Dokumente“, Shijing „Buch der Lieder“, Liji „Buch der Riten“ und das Zuozhuan „Überlieferung des Herrn Zuo“. In ihrem Sinne müssen die Fragen beantwortet, die Gedanken verfasst werden. Selbst unbedeutende Stellen aus diesen Büchern müssen die Kandidaten sofort erkennen und einordnen. Der Prüfungsinhalt ist die Basis für den gesamten Beamtenapparat des Riesenreiches. Jeder Staatsangestellte in China beruft sich in all seinen Handlungen auf diese konfuzianische Grundlage. Am Ende der Prüfung reichen die Anwärter ihre Bögen an einen Schreiber, der sie noch einmal kopiert und jede Arbeit mit einer Nummer versieht. So wird sichergestellt, dass der Prüfer keinen seiner Schützlinge am Namen oder an der Handschrift erkennt, und bei der Bewertung vor- oder nachteilig behandelt.

Für die meisten der Prüflinge begann die Vorbereitung auf diesen Tag schon vor ihrer Geburt. Von dem Tag an, an dem eine Frau weiß, dass sie schwanger ist, darf sie sich nur noch vorsichtig bewegen, muss stets eine aufrechte Haltung zeigen und eine strange Diät einhalten. Wenn sie in ihren polierten Kupferspiegel schaut, sieht sie um ihr Gesicht die Wunsch-Formel geschrieben „Fünf Söhne mögen das Examen bestehen“. Ist das Kind ein Mädchen, bekommt es eine Spinnwirtel geschenkt und bald die Füße eingeschnürt. Ist es jedoch ein Junge, darf er mit Münzen spielen, in die „Examenserster“ eingeprägt ist. Nach hundert Tagen treffen Geschenke aus der Verwandtschaft ein: Armspangen und Glöckchen, Münzen und Glücksbringer. Zu dem Fest setzt der Vater den Stammhalter vor vier Gegenstände. Der Säugling darf zwischen einem Buch, einem Schwert, einem Beamtenabzeichen und einem Geldstück wählen. Je nachdem, wonach seine kleinen Patschhändchen greifen, winkt ihm eine Zukunft als Gelehrter, Soldat, Beamter oder Händler. Mit drei Jahren beginnt dann seine Ausbildung im Elternhaus. Wer es sich leisten kann, beschäftigt einen Privatlehrer, der schon jetzt den Jungen immer wieder kleine Prüfungen über den gelernten Stoff schreiben lässt. Mit sieben geht es weiter auf die Tempel-, Dorf-, Kommunal- oder Privatschule. Ab nun heißt es jeden Tag viele der komplizierten chinesischen Schriftzeichen auswendig lernen und Texte memorieren. 431286 Zeichen werden es bis zum Ende seiner Ausbildung sein – bis er sich zur ersten Prüfung melden darf.

Der ersten regionalen Prüfung folgen weitere: zuerst in den Kreisstädten, später in den Provinzhauptstädten und am Ende gar in der Hauptstadt selber. Der Druck ist enorm. Manche Prüflinge versuchen, die Aufseher zu betrügen. Sie tragen Unterhemden, auf die in kleinster Schrift die Werke der Klassiker gedruckt sind. Andere verlieren noch vor der Prüfung den Verstand. Sie hören Stimmen und sehen Geister. Mache laufen Amok und versuchen schreiend über die Mauer der Prüfungshalle zu springen. In vielen Fällen schafft ein Kandidat es gar nicht erst durch das Tor. Zu den überregionalen Prüfungen müssen die Anwärter oft weite Wege zurücklegen. Für diese Reise hat machmal die gesamte Familie Geld gesammelt – doch am Abend zuvor vertrinken die Prüflinge das Gesparte und liegen am nächsten Morgen verkatert in der Gosse.

Als der Aufseher von Guangzhou im Jahr 1828 die Prüfungsergebnisse bekannt gibt, ist Hong Xiuquans Name nicht unter denen, die bestanden haben. Und wieder nicht acht Jahre später, als er es erneut versucht. Auf der Straße vor der Prüfungshalle drückt ein protestantischer Missionar dem verzweifelten jungen Mann ein Pamphlet in die Hand. Es ist eine freie Interpretation der Bibel des chinesischen Konvertiten Liang Afa. Darin geht es vor allem um Auserwählte, die sich mit Gottes Hilfe gegen die Unterdrückung gewehrt haben. Von den zehn christlichen Geboten hält Liang nur sechs für wichtig genug, sie zu übernehmen. Dafür fügt er ein siebentes hinzu: Du sollst nicht Opium rauchen. Doch Hong Xiuquan hat keine Zeit, sich mit den Geschichten der Märtyrer aufzuhalten. Er muss weiter lernen – für einen weiteren Versuch, die Shengyuan-Prüfungzu bestehen, im folgenden Jahr.

Der Bauernsohn scheitert ein drittes Mal. Im Delirium der Verzweiflung kehrt er nach Guanlubu zurück. Hong Xiuquan fällt in ein Koma, Visionen suchen ihm heim. Diener des Himmels schneiden seinen Bauch auf und entnehmen die Organe, ersetzen seine eigenen schmutzigen durch neue, saubere. Ein goldbärtiger Mann spricht zu ihm: Er nennt Hong Xiuquan seinen Sohn und gibt ihm ein Schwert, mit dem er die Dämonen auf der Erde vertreiben soll. Neben seinem „Vater“ steht ein Mann, der sich als „älterer Bruder“ bezeichnet. Schließlich erwacht der Gequälte aus seinen Albträumen. Doch die Realität ist schlimmer als seine Wahnvorstellung. Das Dorf erklärt ihn für verrückt und sperrt Hong Xiuquan ein, damit er sich beruhige. Im Kerker sagt er sich von seinem leiblichen Vater los und schreibt mit roter Tinte seinen neuen Titel auf ein Blatt Papier: „Himmlischer König, Herrscher des königlichen Weges.“

Doch die Zeit heilt alle Wunden, und nach einigen Wochen kann Hong Xiuquan sogar seine Arbeit als Dorflehrer wieder aufnehmen. Sechs friedliche Jahre vergehen, bis er ein letztes mal nach Guangzhou aufbricht und zum vierten mal durch die Prüfung fällt. Da erinnert sich der Gescheiterte an das Büchlein des Missionars. Und plötzlich wird ihm klar: Der Vater seiner Visionen war niemand anders als der christliche Gott und sein „älterer Bruder“ Jesus daselbst. Hong Xiuquan ist auserkoren. Er soll China zum wahren Glauben führen und die Herrschaft der Mandschu brechen.

Die ländliche Bevölkerung ist so arm und verzweifelt, dass die Menschen bereit sind, ihm Glauben zu schenken. Zu seinen ersten Jüngern gehören Bauern, Zimmerleute, Schmiede, Wahrsager, Hirten und Köhler. Ein große Dürre und die anschließende Hungersnot lassen seine Anhängerschaft bis zum Jahr 1849 auf rund 10 000 Gläubige anschwellen. Im Jahr darauf sind es bereits doppelt so viele. Hong Xiuquan beginnt, seine Schar zu Kampftruppen zu formieren – unter den Soldaten sind auch viele Frauen. Die Kämpfer lösen ihre Mandschu-Zöpfe. Die Kunde von den „langhaarigen Rebellen“ verbreitet sich wie ein Lauffeuer über die Berge – bis ins ferne Beijing. Ende 1850 schicken die Mandschu eine Truppe, die den Aufständischen den garaus machen soll. Doch für über 350 Regierungssoldaten endet der Auftrag mit dem Tod. Die erste Schlacht ist erfolgreich geschlagen. An seinem 37. Geburtstag, dem 11. Januar 1851, ruft Hong Xiuquan das „Taiping Tianguo“ aus – das „Himmlische Reich des Höchsten Friedens.“

Später erklärt er das Jahr zum ersten der neuen Taiping-Zeit. Fortan soll ein von ihm eingeführter Sonnenkalender gelten. Sein Heer macht sich auf den Weg nach Norden und erobert Dorf um Dorf, Stadt um Stadt, und schwillt dabei mit jeder Schlacht um neue Jünger an. Im Jahr 3 des neuen Zeitalters erobern die Gotteskrieger schließlich die alte Kaiserstadt Nanjing. Mittlerweile folgen Hong Xiuquan zwei Millionen Menschen. Sie schwören dem Glücksspiel, dem Opium, dem Alkohol und dem Tabak ab. Auch Ehebruch, Tanz und Handel verurteilen die Neubekehrten. Prostituierte richten sie hin, ebenso Homosexuelle. Hong Xiuquan verfasst eine Bodenreform. „Das Land soll von allen bebaut werden“, verfügt der Gottessohn. Und mit „allen“ meint er sowohl Männer als auch Frauen. „Der Reis soll von allen gegessen werden, die Kleider von allen getragen, das Geld von allen ausgegeben werden, so dass nirgends Ungleichheit herrscht, und jeder Mensch soll wohlgenährt und warm gekleidet sein.“

Nur sich selber schließt der Reformer von der „Gleichheit unter allen“ aus. 10 000 Arbeiter müssen ihm einen Palast im Osten von Nanjing errichten. Darin lebt er Gerüchten zu Folge mit 88 Gemahlinnen und 2000 Dienerinnen in Saus und Braus. Und dann begeht Hong Xiuquan einen entscheidenden Fehler. Im August 1860 versucht er, Shanghai einzunehmen – Sitz der reichen Ausländer, die von hier aus ihren Handel kontrollieren. Damit schafft das „Himmlische Reich des Höchsten Friedens“ sich mächtige Feinde. Die Briten wollen sich nicht von Bauern herumkommandieren lassen, die auch noch den lukrativen Opiumhandel verdammen. Amerikaner und Franzosen wollen ebenfalls ihr Silber schützen und stellen eine Armee sowie Dampfkanonenboote und moderne Handfeuerwaffen. Und auch die Mandschu machen nun ernsthaften Widerstand mobil: eine private Truppe von 132 000 Männern unter dem Befehl des Beamten und Gelehrten Zeng Guofan.

Das Reich des Hong Xiuquan zerfällt. Zuerst bröckeln die Ideale. Der Traum von der Verteilung des Ackerbodens lässt sich nicht gegen die alten Machtstrukturen in den Dörfern realisieren. Dann umzingelt die Armee des Zeng Guofan Nanjing. In der belagerten Stadt verhungern die Soldaten. Doch Hong Xiuquan berührt das nicht. Sollen seine Jünger es doch halten wie das Volk Israel und auf Manna warten, das von Himmel falle. Dann stirbt plötzlich am 1. Juni 1864 der chinesische Sohn Gottes. Eine seiner Frauen hüllt den Körper in gelbe Seide – der Stoff, der sonst nur Kaisern vorbehalten ist – und legt ihn in die Erde. Das chinesische Gottesreich währte nur 14 Jahre. Genug Zeit, um in zahllosen Schlachten 20 bis 50 Millionen Menschen das Leben zu kosten. Und genug Zeit, um das Reich der Mitte, den uralten Riesen, ins Straucheln zu bringen.

Als die Taiping-Rebellen noch das Jahr 1 ihrer neuen Zeitrechnung feiern, kommt ein 15 jähriges Mädchen in die Verbotene Stadt des Kaisers in Beijing. Sie ist zunächst nicht mehr als eine Konkubine 5. Ranges. Cixi verfügt kaum über Kenntnisse im Lesen und Schreiben, aber dafür über atemberaubende Schönheit. Dem Kaiser Xianfeng gefällt das schwarzhaarige Mädchen. Und dem Mädchen gefällt es in der Verbotenen Stadt. Man ist nie alleine: Bis zu 9000 Damen, 20 000 Eunuchen und 5000 Wachleute sorgen für das Wohl der kaiserlichen Familie. Die Hofdamen verbringen ihre Tage mit Stickerei, Musik und gegenseitigen Besuchen. Wer kann und will, pflegt auch Malerei, Kalligrafie und Dichtkunst. Nie darf jedoch eine Gemahlin des Kaisers – oder gar eine Konkubine – den Herrscher ohne offizielle Anmeldung treffen. Nach dem Abendessen legt ein Eunuch dem Himmelssohn eine Liste seiner Frauen vor, aus der er seine Gesellschafterin für den Abend wählt. Jeder Besuch einer Frau beim Kaiser wird peinlich von einem Eunuchen registriert, damit es im Falle einer Schwangerschaft keinen Zweifel an seiner Vaterschaft geben kann.

Cixi gelingt, was sonst keine Frau des Kaisers schafft: Sie schenkt dem Herrscher einen Sohn. Damit ist sie, trotz ihres Status als Konkubine, bald mächtiger als Cian, die erste Frau des Xianfeng. Als der Kaiser 1861 stirbt, wird ihr fünfjähriger Sohn Zaichun Kaiser und nimmt den Namen Tongzhi an. Cixi und Ci’an führen für ihn die Staatsgeschäfte, wobei sich die stille Kaiserwitwe gerne der ambitionierten Schwarzhaarigen unterordnet. Während draußen im Reich die Schlacht um Nanjing gegen die Taiping-Rebellen wütet, herrscht in der Verbotenen Stadt in diesen Jahren relativer Frieden. Die Familie lebt hinter acht Meter hohen und sechs Meter dicken Mauern abgeschirmt von der Wirklichkeit im Reich. Eine zusätzliche Sperre gegen Krieg, Hunger und Elend bietet ein 52 Meter breiter Wassergraben um das 720 000 Quadratmeter große Areal. Drinnen leben die Bewohner der Verbotenen Stadt in angeblich 9999 Räumen – die Zahl neun besitzt nach der chinesischen Lehre des Feng Shui sehr viel männliche Kraft, yang. Als sich nach Abdankung des letzten Kaisers allerdings jemand die Mühe macht, die Räume nachzuzählen, kam er „nur“ auf 8886.

An dem Tag, als Cixi 1851 die Verbotene Stadt betrat, kam sie durch das Mittagstor (Wu Men) im Süden der Anlage. Seine Hufeisenform mit den fünf von geschwungenen Dächern bekrönten Pavillons brachte ihm den Namen „Fünf-Phönix-Tor“ ein. Eine niederländische Delegation zeigte sich im 17. Jahrhundert von dieser Toranlage so beeindruckt, dass sie das Wu Men bereits für den gesamten Kaiserpalast hielt. Dreimal im Jahr – am Neujahrsfest, zum Geburtstag des Kaisers und zur Wintersonnenwende – hält der kleine Tongzhi Herrscher Audienz in der Halle der höchsten Harmonie (Taihe Dian). Sie ist die prächtigste Halle der Verbotenen Stadt. Achtzehn Räuchergefäße aus schwerer Bronze säumen ihre monumentale Aufgangsrampe, jedes davon repräsentiert eine Provinz des Reiches. Im Osten symbolisiert eine Sonnenuhr, im Westen ein Scheffelmaß die kaiserliche Gerechtigkeit. Bronzene Kraniche und Schildkröten gewähren Kaiser und Reich ein langes Leben.

Eigentlich sollte Tongzhi in der Halle der Himmlischen Reinheit residieren, seine Gemahlin später im Palast der Irdischen Ruhe. Doch wie alle kaiserlichen Familien nach den ersten vier Ming-Herrschern suchen sich auch Cixi, Ci’an und Tongzhi gemütlichere Wohnräume in den kleineren Palastkomplexen. Die Halle der Himmlischen Reinheit dient indessen für inoffizielle Empfänge. Tongzhi lebt in der Halle der Pflege des Herzens. Jeden Abend setzen Eunuchen dem Kind dort ein Gericht mit 108 Gängen auf kaiserlichem gelben Porzellan vor. So will es der Brauch. Seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts ist die Verbotene Stadt mit ihren festen Regeln und Ritualen Sitz der Herrscherfamilie. Der Yongle Kaiser ließ sie 1405 – 1421 errichten. Dazu schafften 200 000 Arbeiter Marmor aus Fangshan und Jiangsu, Tonziegel aus dem 500 Kilometer entfernten Shandong, farbige Glasurziegel aus dem Beijinger Stadtteil Liulichang und gewaltige Nanmu-Stämme aus den Wäldern der südwestlichen Provinzen Sichuan, Yunnan und Guizhou herbei. Für den mehr als 2000 km langen Weg per Schiff über den Yangzi und den Kaiserkanal benötigte ein Stamm manchmal einige Jahre.

In den sechshundert Jahren ihrer Benutzung residieren in der Verbotenen Stadt insgesamt 24 chinesische und mandschurische Kaiser. Tongzhi ist der zweiundzwanzigste. Er stirbt 1875 im Alter von achtzehn Jahren. Cixis neue Marionette und Kaiser Nummer 23 in der Verbotenen Stadt wird ihr Neffe Guangxu. Der Junge ist gerade eben drei Jahre alt. Doch er wächst zu einem interessierten, offenen jungen Mann heran. Als er volljährig wird, verabschiedet er sein erstes Reformgesetz, um das erstarrte Reich der Mitte in die Moderne zu führen. Ein notwendiger Schritt: Im China des ausgehenden 19. Jahrhunderts schicken Provinzbeamte zwar ihre Berichte über Telegrafenleitungen in den Kaiserpalast, doch dort übernehmen immer noch Eunuchen die Bearbeitung – Männer, die als kleine Jungen grausam verstümmelt wurden. Dampfboote ermöglichen ein schnelles Vorwärtskommen auf dem Yangzi, doch Frauen können nach wie vor auf ihren eingebundenen Füßen nur Trippelschritte machen. Junge Studenten gehen nach Japan, um dort Medizin oder Naturwissenschaften zu studieren. Viele Offiziere gehen in den Westen, um sich an den britischen, amerikanischen, französischen oder auch an deutschen Militärschulen zu Befehlshabern ausbilden zu lassen, doch müssen sie weiterhin den Mandschu-Zopf tragen.

Als Guangxus Dekret in dem Amtsstuben eintrifft, erstarren die Beamten vor Schreck. Wie wird Cixi reagieren, die seit 47 Jahren alles daransetzt, die Traditionen zu wahren? Wie eine Spinne im Netz spinnt sie von ihrem Sommerpalast 15 Kilometer nordwestlich von Beijing aus die Fäden. Genau 100 Tage nach dem Erlass des Guangxu nimmt ein Trupp unter der Leitung von Cixis Vertrautem Ronglu den Kaiser gefangen und setzt ihn auf eine Insel im südlichen Palastsee unweit der Verbotenen Stadt. „Der Kaiser ist krank“, lässt Cixi verlauten. „Ich führe an seiner Stelle die Regierungsgeschäfte.“ Am nördlichen Ausgang des Wohnkomplexes, in dem die Regentin sich ihre Zimmer gewählt hat, steht ein Brunnen. In diesen stürzt die wütende Regentin angeblich Guangxus Lieblingskonkubine.

Doch China ist von Innen verrottet. 1900 erschüttert der Boxeraufstand gegen die „barbarischen“ Ausländer das Reich der Mitte. Cixis Kurs gegen die Fremden schlingert. Sie gebietet den Aufständischen keinen Einhalt, als diese beginnen , überall in den Straßen Engländer, Amerikaner und Franzosen abzuschlachten. Und doch hängt in ihrem Schlafgemach ein Bild der britischen Königin Viktoria, die sie bewundert. Am Ende der Unruhen muss China sich zur Zahlung von 450 Millionen Silbertael, etwa 600 Millionen Dollar, an den Westen verpflichten. Cixi begibt sich in den Monaten der Krise auf eine „Inspektionsreise“ durch das Reich – ein diplomatischer Schachzug zur Erklärung ihrer feigen Flucht aus der Verbotenen Stadt. Nach ihrer Rückkehr zieht sie sich ganz aus der Politik zurück. Statt dessen besucht sie oft die Oper, lässt in der Verbotenen Stadt sogar eigens für sich ein neues Theater erbauen. Oft beginnt eine Vorstellung am frühen Morgen und endet erst nach Einbruch der Dunkelheit. Cixi will nicht wissen, was außerhalb der dicken Mauern um die Verbotenen Stadt passiert.

Im Juni 1908 fühlt sich die alte Herrscherin zunehmend schlechter. Doch sie weiß, es gibt noch einiges zu regeln, bevor sie diese Welt verlassen kann. Am 12. November vermerken die Ärzte, dass Cixi keine Nahrung mehr zu sich nimmt. Zwei Tage später bestimmt sie in einem Edikt den zwei Jahre alten Puyi, Neffe des von ihr in Gewahrsam genommenen Guangxu Herrschers, zum neuen Thronfolger. Fast genau in diesem Moment stirbt der rechtmäßige Throninhaber. Die Regentin habe ihn ermorden lassen, sagen einige. Andere führen den Tod des Kaisers aus die Tuberkulose zurück, an der er seit Herbst 1907 litt. Nun kann auch Cixi beruhigt sterben. Keine 24 Stunden später ist der „Alte Drache“ tot. Und Puyi der letzte Kaiser von China. 1912 wird er per Dekret zu Gunsten einer „provisorischen republikanischen Regierung“ abdanken.

Dieser Text diente als erste Vorlage für die Fernsehproduktion „ Gefangen in Peking – Aufstand der Boxer (ZDF) / Peking 1900 – Aufstand der Boxer (ARTE)“.

Produziert von Gruppe 5 für ZDF, ZDF-E, ARTE, BBC, History Channel.

Den Trailer auf der Webseite der Gruppe 5 ansehen»

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