Virtuelle Baustelle – Der Kreml im Wandel der Jahrhunderte

Deutsche und russische Experten rekonstruieren die wechselvolle Geschichte des Moskauer Machtzentrums. Fünf Bauphasen des russischen Wahrzeichens erstehen als begehbare virtuelle Realität.

Der Moskauer Edelmann muss verzweifelt gewesen sein in jener Winternacht des Jahres 1238. Draußen vor den Toren der Stadt stehen die Horden des Batu Khan. Innerhalb der Palisaden ist an verschiedenen Stellen bereits Feuer ausgebrochen, der Rauch brennt ihm in den Lungen. Wie lange lässt sich Moskau noch halten? Ein paar Stunden, höchstens. In seiner Not gräbt der Adlige ein Loch in den Boden. Sollen die Mongolen doch kommen und wüten, in diesem Erdversteck werden seine Schätze sicher vor Raub und Plünderungen sein. Hastig verscharrt er, was die Soldaten des Batu Khan nicht finden sollen: einen Armreif aus schwerem Silber, die Enden mit Drachenköpfen verziert; den Schläfenschmuck einer Frau, mit zierlichen Schnüren aus filigranen Silberanhängern; Silberbarren, damals Zahlungsmittel für große Beträge; ein goldener Fingerring aus dem Orient, der seinem Träger auf arabisch „Ruhm, Erfolg, Macht, Glück und Schmuck“ verspricht, dazu Ohrgehänge, Halsreifen und -ketten.

Die mongolischen Horden haben den Schatz nicht gefunden. Doch auch sein Besitzer kam niemals zurück, um den Schmuck wieder auszugraben. Vielleicht starb er unter dem Ansturm der Angreifer. Vielleicht verkauften ihn die Mongolen in die Sklaverei. Der Hort mit den Kostbarkeiten jedenfalls ruhte ungestört in der Erde – 750 Jahre lang, bis er 1988 unweit des heutigen Erlöser-Tores gefunden wurde.

Moskau brennt in jenen Winternächten komplett nieder. Denn die Festung ist damals nur eine Ansammlung von Holzhäusern. Auf dem Hügel am Zusammenfluss von Moskwa und Neglinnaja stehen 1238 nicht viel mehr als ein paar Gehöfte und eine achteckige Holzkirche mit einem Friedhof. Ein Erdwall und eine Palisade aus Eichenpfählen bilden den einzigen Schutz der Keimzelle dessen, was einst zur mächtigsten Stadt des Russischen Reiches werden soll.

Erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts, als Alexander Jaroslawitsch Newskij, Großfürst von Wladimir, das Reich unter seinen Söhnen aufteilt und dem jüngsten, Daniil, das Gebiet um Moskau zuweist, steigt die Stadt zum Herrschersitz auf. Bald ergänzt ein Fürstenhof die Anlage auf dem Hügel. Das Wohnhaus ist zwar ebenso wie die anderen Gebäude aus Holz, ragt aber mit seinen zwei Stockwerken deutlich über die niedrigen Häuser Moskaus hinaus. Zu ebener Erde liegen die Wirtschaftsräume und eine Hauskapelle, im Obergeschoß wohnt der Fürst mit seiner Familie. Moskau benötigt nun einen besseren Schutz, als ihn der alte Erdwall bieten kann. Die Verteidigungsanlage, die in diesen Jahren entsteht, ist nach dem neuesten Stand der Technik gebaut: dem westslavisch-germanischen Rostsystem. Unter der aufgeschütteten und festgestampften Erde geben kreuzweise verlegte Holzbohlen der Konstruktion Stabilität. Die Palisade bekommt eine Überdachung.

Es dauert nicht lange, bis Moskau zum Zentrum der Region aufsteigt. Just hat im fernen Italien der Dichter Dante Allighieri seine „göttliche Komödie“ fertiggeschrieben und die katholischen Päpste residieren im französischen Avignon, da ziehen sowohl Iwan I. Kalita, Großfürst von Wladimir, als auch das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Metropolit von Kiew und ganz Russland, Pjotr, in den 1320er Jahren an die Neglinnaja-Mündung. Die neuen Herren Moskaus beginnen, die Stadt entsprechend ihrem Status zu schmücken. An Stelle der Holzkirche entsteht der erste Steinbau, die Maria-Entschlafens-Kathedrale. Kurz darauf folgt der Bau der Erzengel-Michael Kathedrale aus strahlend weißem Kalkstein. 1342 findet Iwan Kalita als erster Herrscher in ihr seine letzte Ruhestätte, in kommenden Jahrhunderten wird sie zur Grablege der russischen Zaren. Für die befestigte Siedlung auf dem Borowizki-Hügel fällt nun erstmals der Name „Kreml“, der sich entweder von dem russischen Wort für Festung, „Kremnik“, oder von „Krem“ – Bauholz – ableitet.

Immer wieder legen Feuersbrünste die Stadt in Schutt und Asche: Die Holzhäuser brennen wie Zunder. So auch 1365, als eine vergessene Kerze einen Feuersturm entfacht, der binnen zwei Stunden die Stadt vernichtet. Der Wiederaufbau geschieht nicht mehr in Holz, sondern die Baumeister greifen – zumindest für die Repräsentativbauten – zum beständigeren Kalkstein. Die Gelegenheit ist günstig, das Areal zu vergrößern. Den Kreml umschließt nun eine weithin sichtbare weiße Mauer. Unmittelbar nach der Fertigstellung muss sie sich bewähren: Der litauische Großfürst Olgerd rückt an, um die Stadt zu belagern. Die Mauer hält Stand, und Olgerd zieht unverrichteter Dinge wieder von dannen.

Südlich des Nikolaus-Tores steht nun eine Kirche, die den Schutzpartonen der „Feuerberufe“ geweiht ist. Hier, im Schatten der Kosmas- und Damian-Kirche, leben und arbeiten im 14. und 15. Jahrhundert die Gold- und Hufschmiede. Diese Ansiedlung ist natürlich ein „Spiel mit dem Feuer“. An den Festungstoren werden stets Schmiede gebraucht: Wer auf der Durchreise ist, kann hier sein Pferd beschlagen oder sein Fuhrwerk reparieren lassen. Aber die glühenden Essen sind eine ständige Gefahrenquelle für Brände. Allein in den Jahren zwischen 1453 und 1493 – während am anderen Ende Europas Nikolaus Kopernikus und Michelangelo aufwachsen, in Spanien die Inquisition eingeführt wird und Kolumbus sich aufmacht, eine neue Welt zu entdecken – fällt Moskau zehn mal den Flammen zum Opfer.

Als sich 1472 die Kutsche mit Zoe Palaiologos, Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, der Stadt Moskau nähert, sieht die Prinzessin die weißen Mauern des Kreml über der Moskwa aufragen. Sie wurde in das kalte Land im Osten geschickt, um hier Iwan III. Wassilewitsch, auch „Der Große“ genannt, zu ehelichen. Papst Paul II. erhofft sich von dieser Verbindung, die 1439 auf dem Konzil von Ferrara/Florenz geschlossene Union zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche mit neuem Leben zu füllen und zusätzlich Moskau für eine Allianz gegen das Osmanische Reich zu gewinnen. Des Papstes Wünsche blieben unerfüllt, doch Zoes Einfluss auf ihren Ehemann und damit auf Moskau sollen von bleibender Wirkung sein.

Es ist wohl ihr zu verdanken, dass Iwan den Kreml im Zuge großer Umbaumaßnahmen in einem Stil gestalten lässt, mit dem die in Rom aufgewachsene Zoe seit ihrer Kindheit vertraut ist: der italienischen Frührenaissance. Der Fürst schickt einen Gesandten nach Venedig und beauftragt ihn, der besten Architekten habhaft zu werden und sie an die Moskwa zu locken – koste es, was es wolle. Und so trifft im März 1475 Aristotele Fioravanti, der bereits in Italien und Ungarn Befestigungsanlagen errichtet hat, mit seiner Bauhütte im Kreml ein. Marco Ruffo baut in den Folgejahren den Beklemischewskaja-Eckturm, für Tainizkaja- und Swiblowaja-Turm (heute Wasserförder-Turm) ist Antonio Gilardi verantwortlich und Pietro Antonio Solari entwirft den Borowizkaja-, Konstantin-Helena, Erlöser-, Nikolaus- sowie den Hundeturm (heute Arsenal-Turm). Der Meister Aristotele Fioravanti selber kümmert sich um den Neubau der 1474 durch ein Erdbeben zerstörten Maria-Entschlafens-Kathedrale. Zehn Jahre später wird auch die Maria-Verkündigungs-Kathedrale, künftig die Hauskirche der Moskauer Fürsten, neu errichtet – zeitgleich mit dem Neubau der Maria-Gewandniederlegungs-Kathedrale, die dem Metropoliten als Hauptkirche dient. Mit seinem neuen Gesicht aus rotem Backstein steht der Kreml den Befestigungsanlagen von Mantua, Turin, Verona und anderen Städten Mittelitaliens in nichts mehr nach. Die neuen Mauern sind 2,5 Kilometer lang, fünf bis neunzehn Meter hoch, 3,5 bis 6,5 Meter dick und bekrönt von roten schwalbenschwanzförmigen Zinnen. Der Kreml gleicht nun den berühmten Burgen von Mailand und Metz – nur übertrifft er seine westeuropäischen Vorbilder noch an Größe.

Nicht umsonst trägt Iwan den Beinamen „der Große“. 1480 gelingt es ihm, die Macht der Goldenen Horde zu brechen, die Regentschaft der Mongolen ist damit vorbei. Die Architektur des Kreml spiegelt zunehmend die Bedeutung des Fürsten. Als Audienz- und Thronhalle dient dem Herrscher ab 1491 der von Marco Ruffo und Pietro Antonio Solari gestaltete Facettenpalast, heute der älteste noch erhaltene Profanbau Moskaus. Auch Farbe hält nun Einzug in das russische Machtzentrum. In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts, während im fernen Italien Leonardo da Vinci an der Mona Lisa malt, entsteht die „Wunder des Erzengels Michael“-Kathedrale, die Hauptkirche des Tschudow-Klosters. Das Hauptgesims schmückt ein Fries, auf dem sich gelbe Delphine und Pflanzen von einem türkisfarbenen Untergrund abheben. Zur gleichen Zeit erhält der Kreml auch seinen prominenten Blickfang, den Glockenturm „Iwan der Große“.

Im Jahr 1517 – in dem Martin Luther die 95 Thesen verfasst – schreibt der polnische Gelehrte Mathias von Miechow einen Reisebericht über seine Fahrten gen Osten. In diesem Reisetagebuch ist die älteste bekannte ausführliche Beschreibung Moskaus überliefert. Darin reiht der Professor die Stadt unter die führenden europäischen Metropolen: Er vergleicht sie mit Florenz und Prag, den Kreml mit der Burg Buda in Ungarn und die Moskwa mit Moldau und Arno.

Iwans Nachfolger – Iwan IV., auch „der Schreckliche“ genannt – setzt die Arbeiten an den Repräsentationsbauten fort. Noch im Jahr seiner Krönung zum Zaren – es ist 1547 und in England besteigt gleichzeitig die als „Bloody Mary“ bekannte Maria I. den Thron – lässt er die Kuppeln der Maria-Entschlafens-Kathedrale vergolden. Acht Jahre später entsteht vor den Toren des Kreml die Maria-Schutz-am-Graben-Kathedrale. Kaum sind die Arbeiten an dieser beendet, wartet schon das nächste Projekt: der Wiederaufbau der beim letzten großen Brand zerstörten Maria-Verkündigungs-Kathedrale.

Nach dem Tode Iwans steht das Land am Rande des wirtschaftlichen und politischen Chaos. Mit seinem Sohn Fjodor, der zwar vierzehn Jahre lang auf dem Thron sitzt, aber praktisch regierungsunfähig bleibt, verstirbt 1598 dann auch der letzte Rjurikide. Das alte Herrschergeschlecht, das seine Wurzeln noch auf die Waräger (Wikinger) zurückführte, erlischt mit ihm. Erbittert wehren sich in der Folgezeit die Russen sowohl gegen den inneren Verfall des Staates als auch gegen die polnischen, litauischen und schwedischen Truppen, die 1612 den Kreml zerstören und den Kronschatz plündern. Mit dem Sieg über das feindliche Heer am 27. Oktober scheint die Gefahr vorerst gebannt. Doch ein neuer Herrscher muss her. Auf einem zum Jahreswechsel einberufenen Reichstag einigt sich die Landesversammlung auf den erst sechzehnjährigen Michail Fjodorowitsch Romanow. Als er im Juli die Zobelkrone annimmt, begründet er die Zaren-Dynastie, die bis zur Oktoberrevolution 1917 die Geschicke Russlands bestimmen soll. Als Herrschersitz lässt sich der erste Romanow 1635 den Terem-Palast bauen.

Moskau aber hat einmal bessere Tage gesehen. Aus dem Reisebericht von Adam Olearius, Sekretär einer Gesandtschaft des Herzogs von Holstein, der in diesen Jahren auf dem Weg von Riga nach Isfahan auch durch die russische Metropole kommt, spricht Verachtung, wenn es heißt: “ Von außen erscheint die Stadt wie Jerusalem, von Innen aber ist sie Bethlehem.“ Nur 1652 mit der Errichtung des Patriarchenpalastes und 1702 mit dem Bau des Arsenals werden die Gebäude des Kreml noch einmal aufgestockt. Zu der Zeit entsteht mit dem Lustschloss Versailles am französischen Hof bereits eine neue Art von Herrschersitz.

Auf Kunst und Architektur des Westens richtet sich der Blick des 1682 auf den Thron gekommenen Peter des Großen. Moskau steht dem Zaren für alles Alte und Rückständige. Mit der Neugründung von St. Petersburg 1703 – dem Jahr, in dem auch die erste russische Zeitung, die „Gazette von Moskau“ erscheint – setzt er ein deutliches Zeichen. In Windeseile wird die Stadt hochgezogen, bereits neun Jahre später verlegt Peter seinen Regierungssitz von der Moskwa an den Finnischen Meerbusen. Schon bald kommt die Bautätigkeit in der alten Zarenresidenz vollständig zum Erliegen – denn sämtliche Steine werden in St. Petersburg gebraucht. Doch ganz kann sich auch der große Reformer den Traditionen nicht entziehen. 1721 nimmt er nicht etwa in seiner neuen Hauptstadt, sondern im alten Moskau den Kaisertitel an. Die Himmelfahrtskathedrale wird bis zum Ende der russischen Monarchie Krönungskirche des Kaiserhauses bleiben.

In den Folgejahren dämmert die alte Metropole vor sich hin. Immerhin entsteht im Kreml 1749 noch das steinerne Winterpalais und 1755 wird die Universität gegründet. Erst als 1762 Katharina II. – die Große – den Zarenthron besteigt, erwacht Moskau aus seinem Dornröschenschlaf. Die Kaiserin hat Großes vor mit der Stadt. Sie will, wie der deutsche Graveur und Historiker der Deutschen Akademie der Künste, Jakob Stehlin, schreibt, „die alten, ungeeigneten und teilweise gefährlichen Gebäude des Kreml vollkommen abreißen und an ihrer Stelle einen Kaiserpalast im neuesten Stil erbauen.“ Den geeigneten Architekten findet sie in Wassili I. Baschenow, ein begeisterter Anhänger des Neoklassizismus. Er plant an Stelle der alten Palastmauer einen mächtigen Neubau direkt am Ufer der Moskwa und die kleinteilige Bebauung im Inneren des Kreml – mit Ausnahme der altehrwürdigen Kathedralen – durch repräsentative Gebäudekomplexe zu ersetzen. 1773 ist es soweit: Ein Holzmodell der geplanten Anlage wird auf 120 Hundeschlitten von Moskau nach St. Petersburg geschafft, um dort der Öffentlichkeit vorgestellt zu werden. Noch im selben Jahr findet die Grundsteinlegung für den neuen Palast statt. Doch nur zwei Jahre später kommen die Bauarbeiten zum Erliegen. Vielleicht waren die Ambitionen der Zarin finanziell zu hoch gegriffen. Vielleicht sind die Senkung des Kreml-Hügels im Frühjahr 1775 und der drohende Einsturz der Erzengel-Michael und der Maria-Verkündigungs-Kathedralen für die Aufgabe der Pläne verantwortlich zu machen. Bekannt ist nur, dass während in Deutschland die letzte Hexe auf dem Scheiterhaufen brennt und der junge Wolfgang Amadeus Mozart als Wunderkind durch die Salons reist, in Moskau die bereits abgerissene Südseite des Kremel ohne Neuerungen wieder aufgebaut wird.

In diesem Zustand sieht Napoleon Bonaparte den Kreml, als er im September 1812 in Moskau einzieht. Doch die Stadt, die er triumphal erobern wollte, ist leer. Von 250 000 Einwohnern sind gerade einmal 15 000 geblieben: fast alle davon Bettler und Gefängnisinsassen. Den Sträflingen war die Amnestie versprochen worden, wenn sie bleiben und überall in der Stadt Brände legen würden. Der kräftige Wind, der Napoleon entgegen bläst, als er vom verlassenen Kreml hinunter auf Moskau blickt, facht die Flammen noch an. In nur vier Tagen brennen 8500 Häuser nieder. 4/5 der Stadt sind damit zerstört. Hier gibt es für Napoleons Soldaten nichts mehr zu holen. Die ersten Einheiten verlassen die Stadt am 19. Oktober 1812 um 2 Uhr nachmittags. Doch für den Rückmarsch ist es bereits zu spät im Jahr – der Winter trifft die Truppen mit unerbitterlicher Härte. Es gibt Nächte, in denen mehrere Tausend Pferde erfrieren. Von den 530 000 Soldaten der Grande Armée kehren kaum 40 000 nach Frankreich zurück.

Moskau entsteht wie ein Phönix aus der Asche, die Napoleons Invasion hinterlassen hat. Schnell sind die Holzhäuser wieder aufgebaut, die großen Steinbauten haben kaum Schaden genommen. Die Kremlschätze, für die 1810 eigens eine Rüstkammer fertiggestellt wurde, konnten die Russen rechtzeitig evakuieren: Sie überdauerten die Belagerung unbeschadet in Nowgorod. Zwei Jahre später ziehen sie wieder in der Rüstkammer ein. Sie bilden das Glanzstück im ersten Museum Russlands, in dem neben den Juwelen auch die von den Franzosen erbeuteten Kanonen zur Schau stehen. Schon 1851 zieht der Kremlschatz erneut um in den Palastkomplex, der – erbaut im „nationalen russischen Stil“ mit klassizistischer Fassade – dem Zaren als Moskauer Residenz dient.

1917 gibt es keinen Zaren mehr. Und damit kehrt auch die neue Regierung der Zarenstadt St. Petersburg den Rücken – Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, verlegt 1918 den Regierungssitz zurück an die Moskwa. Der neue Wind, der nun durch die altehrwürdigen Kathedralen des Kreml weht, sorgt für groß angelegte Umbaumaßnahmen. 1929 müssen alle Klöster, einst Ausdruck orthodoxer Macht im russischen Regierungsbezirk, einer Militärschule und einer Parkanlage weichen. Sechs Jahre später verschwindet ein weiters Zeichen einstiger Pracht: Der Doppeladler, der 450 Jahre lang als Wappentier der Zarenfamilie über den Kreml-Toren prangte, wird durch den roten Stern ersetzt.

Schließlich fallen 1968 mit dem Marsstall und der Rüstkammer weitere architektonische Relikte der Zarenzeit. An ihrer Stelle entsteht der Kongresspalast, in dem sich bei Tagungen der KPDSU bis zu 6000 Parteimitglieder versammeln können. Mit dem Bau dieses einzigen modernen Gebäudes im Kreml bekommt das Architektur-Ensemble seine heutige Gestalt. So sieht der Amateurpilot Mathias Rust die Anlage vor sich auftauchen, als er mit seiner Chessna 172B am 28. Mai 1987 das sowjetische Radar unterflogen hat und zum Landeanflug auf dem Roten Platz ansetzt: Der Kongresspalast Seite an Seite mit der Maria-Entschlafens-Kathedrale, die einst den ersten Kirchbau aus Holz ersetzte, der Erzengel-Michael-Kathedrale, in der in weißen Steinsarkophagen unter Bronzeplatten die russischen Zaren ruhen, und der Maria-Verkündigungs-Kathedrale, die nie von den italienischen Baumeistern umgestaltet wurde, sondern als einzige Kreml-Kirche allein ihren russischen Formen treu blieb. Während in jenem Mai aber im Kongresspalast noch die Parteigenossen konferierten, hat sich seitdem die Nutzung des Gebäudes entscheidend gewandelt. Heute spielen in ihm Popgrößen wie Sting und Joe Cocker, wenn sie auf Tournee in die russische Hauptstadt kommen.

Über Jahrhunderte verdichtete sich im Kreml sowohl die politische als auch die religiöse Macht des russischen Reiches. An keinem anderen Ort der Welt teilten sich Kirche und Staat ein derart enges Territorium für ihre Repräsentationsbauten. Seit dem 14. Jahrhundert ist Moskau das pulsierende Herz des größten Flächenstaates der Erde. Und jedes russische Kind weiß: „Über Moskau geht nur der Kreml und über dem Kreml ist nur noch Gott.“
Literatur:
Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2004

Autorenlegende:
Als Angelika Franz, Redakteurin bei Abenteuer Archäologie, im Sommer 2002 den Kreml besuchte, brannte es schon wieder in Moskau: Rund um die Stadt stand der Torf in Flammen.

Kasten:
Auferstehung in 3D

1331 wird der „Kreml“ erstmalig in einer Schriftquelle erwähnt – weil er bei einer Feuersbrunst niederbrennt. Knapp siebenhundert Jahre lang wird jedermann glauben, dass was damals in Flammen aufging für immer verloren sei. Doch zu Beginn des neuen Jahrtausends ermöglichen es deutsche Architekten, den Kreml von einst wieder zu betreten – zumindest virtuell.

Die Mannschaft um Manfred Koob, Lehrstuhlinhaber im Fachgebiet CAD in der Architektur an der Technischen Universität Darmstadt, hat fünf historische Baustufen des Kreml wieder begehbar gemacht. Der Besucher kann nun per Mausklick über die Eichenbohlenwege des Holzkreml spazieren, wie Zoe Palaiologos in ihrer Hochzeitskutsche in den weißen Kreml einfahren, bewundern, was Iwans italienische Architekten an Know-How aus Bologna und Venedig an die Moskwa brachten, einen letzten Blick auf das werfen, was Lenin 1918 niederreißen ließ oder gleich Mathias Rust in der Vogelperspektive über dem Kreml des 20. Jahrhunderts einschweben.

Für seine Arbeit hat Koob fast 4000 Quellen gesichtet. Visuelle Darstellungen wie zeitgenössische Stiche oder Gemälde bildeten dabei nur einen Teil der Datengrundlage. Ebenso von Bedeutung waren für den Architekten Reisebeschreibungen, wie die des österreichischen Botschafters Sigismund von Herberstein, der 1526 im Auftrag von Erzherzog Ferdinand die Zarenstadt besuchte. Von Herberstein hielt fest, welche Gebäude er sah und wie deren Fassaden gestaltet waren – ein knappes halbes Jahrhundert später sind dies Information von unschätzbarem Wert. Für die Rekonstruktion des Holzkreml waren vor allem Ausgrabungen von zeitgleichen Gehöften außerhalb Moskaus von Interesse. Innerhalb der Kremlmauern macht die dichte Bebauung Arbeiten unter der Erde praktisch unmöglich. Erst in den letzten Jahren fanden hier an einzelnen Stellen vorsichtige Forschungen statt. Die Ergebnisse sind noch nicht veröffentlicht, flossen aber bereits in Koobs CAD Rekonstruktion mit ein.

Die verarbeitete Datenmenge ist gewaltig. Etwa 30 Mitarbeiter und Studenten haben zweieinhalb Jahre lang den Kreml virtuell wieder aufgebaut – gegen Ende sogar in drei Tag- und Nachtschichten, um die Rechner des Instituts optimal auszunutzen. Nun können etwa 300 Gebäude wieder betrachtet und zum Teil sogar betreten werden, die seit Jahrhunderten nicht mehr existieren. Die Rekonstruktion bewegt sich auf drei Ebenen: Das Gelände mit seinen Flüssen und Hügeln ist nur schematisch dargestellt, im Zoom werden die Gebäude als „Klötzchen“ im Maßstab 1:500 sichtbar und können im Bedarfsfall bei ganz naher Betrachtung durch detaillierte Modelle bis zu einer Auflösung von 1:1 ersetzt werden. Dabei überrascht die historische Genauigkeit. Für den Holzkreml liegt die mögliche Abweichung der Rekonstruktion vom Vorbild bei knapp über zehn Prozent, für den roten Backsteinkreml des 16. Jahrhunderts sogar weit darunter.

Nicht nur wissenschaftlich, auch interkulturell ist Koobs CAD-Projekt Neuland. Was fertig rekonstruiert war, schickte der Architekt den russischen Wissenschaftlern der Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau und des Staatlichen kulturhistorischen Museums „Moskauer Kreml“, die jede Bauphase akribisch mit ihren Forschungen abglichen. Ein reger Studentenaustausch zwischen Darmstadt und Moskau ergänzte die Zusammenarbeit.

Noch nie ist die Baugeschichte des Kreml umfassender bearbeitet worden – Dokumente, die Jahrhunderte lang in verschiedenen Archiven lagen, wurden hier erstmals zusammen ausgewertet. Das Projekt, das für die Ausstellung „Gottesruhm und Zarenpracht“ der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Auftrag gegeben wurde, wird die Architekten noch bis 2006 beschäftigen. Dann geht die Installation des virtuellen Kreml auf die Heimreise – nach Moskau.

Erschienen in Spektrum der Wissenschaft 06/2004.