Seit hundert Jahren gibt eine Tonscheibe mit geheimnisvollen Zeichen den Forschern Rätsel auf. Bis heute konnten sie nicht klären, ob der Fund ein spektakuläres Einzelstück oder eine meisterhafte Fälschung ist.
Als Luigi Pernier, Ausgräber des Palastes von König Minos im kretischen Phaistos, am Abend des 3. Juli 1908 eine seltsame, flache Tonscheibe in die Hand nahm, ahnte er nicht, dass dieses Objekt noch ein Jahrhundert später die Forscher vor Rätsel stellen würde. Den folgenden Generationen von Gelehrten gelang es bis heute nicht, die Zeichen oder auch nur die Sprache zu bestimmen, in der das mysteriöse Fundstück beschriftet ist. An Deutungsversuchen mangelte es nicht: so zahlreich, so unterschiedlich und teilweise mit so vehementer Überzeugung vertreten, dass der britische Altertumswissenschaftler John Chadwick, Mit-Entzifferer von Linear B, verzweifelt anmerkte: „Selbst wenn König Minos höchstpersönlich jemandem im Traum die wahre Bedeutung offenbaren würde, wäre es für denjenigen unmöglich, andere davon zu überzeugen, dass dies die richtige Lösung sei.“
Das Streitobjekt ist eine flache Scheibe aus feinem Ton, 16 Zentimeter im Durchmesser und 18 Millimeter dick. In einer Spirale winden sich auf beiden Seiten die unbekannten Schriftzeichen. Sie sind jedoch nicht – wie sonst bei Schriften der Minoer üblich – in den Untergrund geritzt, sondern sorgfältig mit Hilfe eines Stempels eingedrückt. Damit ist der „Diskos von Phaistos“ das erste bekannte gedruckte Dokument der Menschheit. Ein neben der Scheibe gefundenes Täfelchen mit Linear A-Schriftzeichen und umliegende Keramikscherben aus der mittelminoischen älteren Palastepoche datieren das Stück auf die Zeit zwischen 1850 – 1600 v. Chr. Als die Scheibe aus dem Palast des Minos bestempelt wurde, sollten noch rund zweieinhalb Jahrtausende vergehen, bis Chinesen die Druckerkunst erfanden – und ganze 3000 Jahre, bis Gutenberg die erste gedruckte Bibel herstellte.
Insgesamt handelt es sich um 45 verschiedene Symbole, die im Text der Scheibe wiederholt vorkommen: Menschliche Figuren, Tierhäute, Werkzeuge – 241 lesbare Zeichen plus ein beschädigtes, eingeteilt in Dreier-, Vierer und Fünfergruppen durch kurze Trennstriche. 31 dieser Gruppen stehen auf der so genannten Seite A des Diskos, 30 auf der B-Seite. An einigen Stellen drängen sich die Zeichen so dicht, dass sie überlappen: Das weiter Innen liegende Zeichen überdeckt dabei das von Außen vorangehende. Wenn die Stempelrichtung mit der Leserichtung des Textes identisch ist, wird die Scheibe von Phaistos von Außen nach Innen gelesen, also von rechts nach links.
Aber was stellt dieser seltsame Fund dar? Wurde den Forschern vielleicht eine Fälschung untergejubelt? Ausgräber Pernier war an jenem Abend der Entdeckung selbst gar nicht anwesend in der Kammer 8 des Palastes, wo die Scheibe gefunden wurde. Erst später brachten ihm die Arbeiter das seltene Stück. Stammte es wirklich aus dem Boden der Kammer? Pernier hat an der Echtheit nie gezweifelt, er erwähnt den Diskos als Fund in seiner Grabungspublikation. Echt ist auf jeden Fall – da sind sich die Wissenschaftler einig – das Linear A-Täfelchen, das angeblich neben der Scheibe lag.
Erst 1977, fast siebzig Jahre nach der Auffindung des Diskos, nahm der belgische Linear A-Experte Yves Duhoux von der Universität Louvain ihn noch einmal genauer in Augenschein. Zwar legte er sich auf keine Deutung der Schriftzeichen fest, konnte jedoch einige Aussagen über die Herstellungsweise der Scheibe machen. Duhoux zeigte, dass die Seite A mit der Hand geglättet worden war, Seite B dagegen allein durch den Druck gegen eine Auflagefläche. Während des Stempelvorgangs, bemerkte der Schriftgelehrte weiter, begann der Ton bereits zu trocknen, woraus sich auch die Reihenfolge der Beschriftung ablesen lässt: Zuerst erhielt die Seite A ihre Zeichen, dann die Seite B. An manchen Stellen hat der Schreiber am ursprünglich gestempelten Text Korrekturen vorgenommen.
Bei einer Fälschung, die mit willkürlich gewählten Symbolen in einer bedeutungslosen Reihenfolge arbeitet, wären solche Verbesserungen nicht notwendig gewesen, auch dies spricht für die Authentizität der Scheibe. Zwischen den Abschnitten vier und fünf auf der Seite A beispielsweise, wurde die ursprüngliche Trennlinie verwischt, damit der Schreiber dieser Einheit noch zwei weitere Zeichen hinzufügen konnte. Die hinzugekommenen Zeichen – Kopf und Lochscheibe – stehen nun außergewöhnlich eng beisammen und die neue Trennlinie ist schräg zwischen die „Wörter“ gequetscht. Die Mehrheit der Diskos-Experten ist sich zumindest so weit einig, dass die Scheibe wirklich aus dem Palast des Minos und aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus stammt.
Mitunter trieben die Erklärungsversuche der Forscher jedoch seltsame Blüten. Als mathematischen Beweis deutete zum Beispiel 1980 der deutsche Jurist Andis Kaulins die Schriftzeichen. Er versteht sie als mathematischen Lehrsatz zum Verhalten von parallelen Linien, ähnlich der Arbeit des russischen Mathematikers Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski aus dem 19. Jahrhundert.
Im selben Jahr, in dem Kaulis seinen Entzifferungsversuch vorlegte, veröffentlichte auch der amerikanische Linguist Steven Roger Fisher, bekannt durch seine Bemühungen um die Entschlüsselung der Osterinsel-Schrift Rongorongo, eine Deutung der Diskos-Inschrift. Fischer versuchte, in jedem Wort eine indoeuropäische Wurzel zu lesen, und verglich diese dann mit dem Vokabular von rund zwanzig Sprachen dieser Familie. So kam er zu dem Schluss, dass die auf der Scheibe abgebildete Sprache eine „hellenische“ sei, nahe verwandet dem archaischen Griechisch. Die Inschrift, so der Forscher, sei ein Aufruf an die Alliierten der Minoer, sich zur Insel Naxos zu begeben, um dort gegen die anatolischen Karer zu kämpfen:
Hört mich, Kreter und Griechen: meine Großen, meine Schnellen! Hört mich, Danaer, ihr Großen, Ihr Würdigen! Hört mich, alle Schwarzen, und hört mich, Einwanderer aus Pudaan und Libyen! Hört mich, oh Wasser, oh Erde: Hellas steht eine Schlacht mit den Karern bevor. Hört mich alle! Hört mich, Götter der Flotte, oh hört mich alle: eine Schlacht mit den Karern steht bevor. Hört mich alle! Hört mich, ihr Vielzahl an schwarzen Völkern und alle! Hört mich, Herren, ihr freien Männer: Nach Naxos! Hört mich, Herren der Flotte: Nach Naxos!
Dass Fischer seine Methode mit einiger Fantasie strapazierte, war dem Amerikaner durchaus klar. „Vielleicht habe ich mir unbewusst diese „minoischen“ Namen selbst ausgedacht“, gab er einige Jahre später zu bedenken.“Auch wenn ich wirklich geglaubt habe, objektiv vorzugehen. Mit anderen Worten: Vielleicht habe ich mich selbst von vornherein betrogen.“
Ebenfalls für eine Form des Griechischen hielt der Tübinger Dozent für Mittelhochdeutsch Derk Ohleroth die Zeichen auf der Scheibe. Nach 16jähriger Arbeit legte er 1996 ein 500seitiges Buch zum Diskos von Phaistos vor. Seiner Meinung nach berichtet der Text von einem bislang unbekannten Heroenkult in Arkadien sowie einem Mysterienkult der Nachtgöttin Nyx. Die B-Seiten-Inschrift lautet nach Ohleroth:
In den Hain der Elaiä tritt ein: Entzünde rings geglättetes Holz: Im Kreis um den Opferrauch schlag ein auf die Erde, und wiehere jählings wie ein Pferdepaar: aio ae! Hyauax!
Auch Altmeister John Chadwick hat sich lange mit dem Diskos beschäftigt. Durch seine Arbeit mit Linear B wurde der Cambridger Professor zum inoffiziellen Ansprechpartner für vielerlei Dechiffrier-Wütige. In seinem Büro stapelte er drei Kisten voll mit Briefen von selbst ernannten Scheiben-Spezialisten aus aller Welt. „Der Diskos von Phaistos ist seit Jahrzehnten ein Mühlstein um meinen Hals“, stöhnte Chadwick noch kurz vor seinem Tod 1998. „Weil jeder Enthusiast denkt, ich wäre hoch erfreut, seine neuesten Entzifferungsversuche zu lesen.“ Auch wenn er selbst nie eine Lösung für das runde Rätsel vorlegte, war Chadwick fest davon überzeugt, dass der Text eine „maritime Expedition militärischer Natur“ beschreibt. Und er stellte fest, das einige der Zeichen immer wieder in bestimmten Kombinationen auftauchen: die Welle steht stets neben dem Helm, der Falke neben dem Horn.
Bis heute können wir nicht sicher wissen, ob die Schriftzeichen auf der Scheibe wirklich eine Handlung beschreiben oder vielleicht nur eine Liste mit Abkürzungen sind. Diese Unterscheidung wäre jedoch wichtig für die Untersuchung mit statistischen Methoden, wie sie oft zu einer Dechiffrierung von Texten angewandt werden. Ein Beispiel: Würden Archäologen in einigen Tausend Jahren einen Kassenbon finden, so würde ihnen dieser einen ganz anderen Eindruck unserer Schrift geben als eine Seite aus „Grimms Märchen“. Der Kassenbon enthält eine Vielzahl von Zahlen und zum Teil sogar für uns heutige Nutzer solcher Dokumente unverständliche Abkürzungen, während in dem Märchenauszug vermehrt Worte wie „gut“ und „böse“ auftauchen, die bei richtiger Interpretation Einblick in unser kulturelles Wertesystem geben.
Nehmen wir einmal an, die Zeichen auf dem Diskos von Phaistos erzählten wirklich eine Geschichte. Dann könnten wir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die Symbole zu einer Silbenschrift gehören. Denn für eine Schrift, die mit Buchstaben operiert, sind 45 verschiedene Zeichen – wie auf dem Diskos gezählt – zu viele. Würde es sich dagegen um eine logo-syllabische Schrift handeln – also ein System, im dem viele Wörter durch eigene Symbole wiedergegeben werden – müsste das Repertoire an Zeichen wesentlich größer sein. Auch die Setzung der Trennstriche spricht dafür, dass es sich um eine Silbenschrift handelt. Denn die Unterteilung in drei-, vier- oder fünfsilbige „Wörter“ wäre nur für eine Silbenschrift typisch.
Können wir denn überhaupt davon ausgehen, dass alle in der Sprache der Scheibe existierenden Symbole auch wirklich in dem aufgestempelten Text verwendet wurden? Für diese Frage gibt es eine einfache Formel:
„In einer kleinen Probe eines alphabetischen oder syllabischen Schriftsystems, das aus L Zeichen von M verschiedenen Typen besteht, ist die wahrscheinliche Anzahl der Symbole oder der Silben in dem Alphabet (LxL)/(L-M)-L.“
Nun haben wir auf dem Diskos von Phaistos 242 Zeichen (L), die 45 verschiedene Symbole (M) wiedergeben. Somit ergibt sich eine geschätzte Anzahl an Symbolen von (242×242)/(242-45)-242 = 55,28, also 55 oder 56. Demnach fehlen in dem Text noch zehn oder elf Symbole der verwendeten Schrift.
Wenn sich schon die Bedeutung des Textes unserer Kenntnis entzieht, wie steht es dann um die Bestimmung der Herkunft der Scheibe? Wurde sie auf Kreta gefertigt? Oder ist sie ein Import? Wenn ja, woher? Die Symbole haben mit den sonst in der Region verwendeten Schriftsystemen, also mit Linear A und Linear B, keinerlei Ähnlichkeit. Auch ist der Diskos von Phaistos, im Gegensatz zu den Linear A und B-Täfelchen, nach dem Aufstempeln der Schriftzeichen gebrannt. Diese Prozedur verwendeten zum Beispiel die Menschen in Ugarit, in Mesopotamien oder in Anatolien zur Haltbarmachung ihrer Tontafeltexte. Weder für die Form – die Scheibe – noch für die Stempel – die so sorgfältig geschnitten sind, dass eine Mehrfachverwendung nur wahrscheinlich ist – gibt es bekannte Parallelen.
Einzig die Lochscheibe findet sich, ebenfalls eingestempelt, auf einer Vase aus dem kretischen Knossos. Aber gerade dieses Symbol ist so ornamental, dass dies auch lediglich Zufall sein kann. Zu Erwarten wäre hingegen bei einer kretischen Schrift das Zeichen der minoischen Doppelaxt. Falls sie sich jedoch nicht gerade unter den zehn oder elf eventuell nicht auf der Scheibe verwendeten Symbolen befindet, fehlt sie unter den Zeichen. Untypisch ist auch die Kleidung der dargestellten Frau mit der Schürze über dem langen Rock. Die hier verwendete Tracht taucht auf den zahlreichen minoischen Fresken oder bei den Statuetten der Insel nicht auf. Ebenso die „Frisur“ oder der „Helm“ des Männerkopfes. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht aber, wie John Chadwick feststellte, zwischen diesem Kopfputz und den Helmen der Philister, die laut Altem Testament ihre Heimat auf Kreta hatten.
Klärung über Herkunft und Alter des Diskos von Phaistos könnte die Untersuchung einer Materialprobe bringen. Doch dazu müsste das Museum von Heraklion, wo die Scheibe ausgestellt ist, erst seine Zustimmung geben. Und das ist derzeit mehr als unwahrscheinlich. Denn nur ein rätselumwitterter Diskos zieht weiterhin die Besucher an – je geheimnisvoller, desto mehr. Der Mythos, der die Scheibe umgibt, schreckt viele Wissenschaftler davon ab, sich eingehend mit ihr auseinanderzusetzen – zu groß ist das Bedenken, den eigenen Ruf zu ruinieren. Und so wird wohl noch lange für viele Forscher die Scheibe das bleiben, was der amerikanische Linear A und B-Experte Emmett Bennett Jr. in ihr sah: ein Tabu für jeden Forscher. Er nannte sie „das Äquivalent eines Totenkopfes auf einer Flasche mit Gift.“
Erschienen in der Reihe Schrift und Sprache, Abenteuer Archäologie 3/2004.