Bis heute entzieht sich die Schrift der Rapanui den Entzifferungsversuchen der Wissenschaft. Nur eines ist bekannt: Zum Lesen muss man die Texttafeln nach jeder Zeile um 180 Grad drehen.
Am 6. April des Jahres 1722 meldete der Mann im Ausguck „Land in Sicht“. Es war jedoch nicht der gesuchte sagenumwobene Südkontinent, sondern nur eine einsame Insel. „Paasch Eyland“ nannte Kapitän Jacob Roggenveen, Kommandant der drei Schiffe Eagle, Thienhoven und African Galley, den dreieckigsförmigen vulkanischen Felsen. Nach dem Tag seiner Entdeckung: Osterinsel. Eine starke Brandung erschwerte die Landung, doch am Strand wurden die Seefahrer bereits erwartet. Nackte Inselbewohner begrüßten die Fremden mit Bananen und Hühnern als Willkommensgeschenke. Doch Roggeveens Männer waren nervöse Burschen. Sie erschossen neun oder zehn der Einheimischen, bevor sie die Hühner einsammelten und die Insel schnell wieder verließen.
Ob die Inselbewohner schreiben konnten oder nicht, war für Roggenveens Männer nicht von Belang. Erst 1864 – als längst die Missionare auch auf dem abgelegenen Eiland eingefallen waren – weckten einige hölzerne Tafeln mit mysteriösen Zeichen darauf das Interesse des französischen Geistlichen Joseph-Eugène Eyraud. Zu dem Zeitpunkt war es allerdings fast schon zu spät: In den 1860er Jahren dezimierten Sklavenhändler und von den Europäern eingeschleppte Seuchen die Bevölkerung der Osterinsel um etwa 94 Prozent. Unter den Opfern waren auch die Häuptlinge und Priester. Mit ihnen aber verschwand das Wissen um Rongorongo, ihre geheimnisvolle Schrift. Bis heute ist es den Wissenschaftlern nicht gelungen, die Zeichen zu lesen.
Erhalten sind lediglich 25 beschriebene Tafeln aus Holz. Es müssen einmal sehr viel mehr gewesen sein, doch sie verbrannten als „Teufelswerk“ in den Feuern der frühen Missionare. Die Zeichen darauf – insgesamt etwa 14 000 bis 17 000, je nach Teilung der komplexeren Glyphen – wurden mit Obsidiansplittern oder Haifischzähnen eingeritzt. Die Sprache, die Rongorongo wiedergibt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine frühe Form des Rapanui, das heute noch auf der Insel gesprochen wird. Es gehört zur Familie der polynesischen Sprachen und ist seit Beginn der Kolonialzeit starken tahitischen Einflüssen ausgesetzt: Sogar der Name „Rapanui“ selber, der sowohl für die Sprache als auch die Insel und ihre Bewohner verwendet wird, ist tahitisch. Fast alle polynesischen Sprachen sind sich so nahe, dass ihre Sprecher sich untereinander verstehen – wie in Europa etwa Hochdeutsch und Holländisch oder Italienisch und Spanisch.
Wie verständlich Rapanui für einen Polynesier zur Zeit von Kapitän Roggeveen allerdings noch war, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Die Osterinsel ist einer der entlegendsten Orte dieser Welt. Etwa 3800 Kilometer Ozean liegen im Osten zwischen der Insel und dem Mutterland Chile, und im Westen sind es 2250 Kilometer bis zur Pitcairn Insel (bekannt aus dem Roman „Meuterei auf der Bounty“ von Charles Nordhoff), dem nächsten Nachbarn. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitenrechnung kamen Siedler von Westen her auf die Insel und blieben – archäologischen, ethnologischen und linguistischen Hinweisen zufolge – für die nächsten 1500 Jahre bis zur Ankunft Roggenveens unter sich. Sie hatten reichlich Zeit, ihre Sprache in eine ganz eigene Richtung zu verändern.
Für die Entwicklung von Rongorongo gibt es drei Möglichkeiten, jede davon ist wahrscheinlich und unwahrscheinlich zugleich. Entweder haben diese ersten Siedler die Schrift ebenso mit auf die Insel gebracht wie ihre Sprache. Es wäre jedoch auch möglich, dass sie erst dort entstanden ist, unabhängig von jeder anderen Schriftentwicklung der Welt. Und letztlich ist auch nicht auszuschließen, dass die Osterinsulaner Rongorongo erst erfunden haben als sie sahen, welche Macht die Zeichen den fremden Europäern verliehen.
In der mündlichen Überlieferung der Rapanui heißt es, dass der mythische erste Siedler, Hotu Matu’a, 67 Tafeln mit sich auf die Insel brachte. Diese Legende könnte allerdings auch im Nachhinein entstanden sein, um ihre Bedeutung zu erhöhen. Denn aus ganz Ozeanien sind sonst keine Schriftsysteme bekannt. Warum sollte sich Rongorongo ausgerechnet auf der Osterinsel erhalten haben, während das Wissen um die Zeichen im gesamten übrigen Herkunftsland der Rapanui verschwand? Hätte sich Rongorongo erst nach der Ankunft Hotu Matu’as entwickelt, so würde man vermuten, dass die Rapanui mit ihrer neuen Schrift auch die Felswände der Höhlen oder die großen steinernen Köpfe der Insel, die Moai, verzieren wollten. Doch finden sich dort jeweils nur vereinzelte Symbole, die mit den Rongorongo-Zeichen höchstens eine vage Ähnlichkeit haben. Für die dritte Möglichkeit schließlich sprechen die Ereignisse des Jahres 1770. Da landeten zum zweiten Mal große Schiffe am Strand der Osterinsel, diesmal unter spanischer Flagge. Sie kamen, um das Eiland für den König in Besitz zu nehmen. Einige Einheimische, welche die Spanier für Häuptlinge hielten, wurden an Bord gezerrt und gezwungen, einen Vertrag der Landschenkung an Karl III. zu „unterschreiben“. Man drückte ihnen die Feder in die Hand und machte vor, wie sie damit das Papier berühren mussten. Die eingeschüchterten Männer malten unter die Urkunde, was sie an Zeichen kannten: zusammenhanglose Glyphen, wie sie auch die Höhlenwände und die Moai zierten.
Einen ersten Entzifferungsversuch von Rongorongo unternahm 1869/70 der Bischof von Tahiti, Florentin Etienne „Tepano“ Jaussen. Er machte den Rapanui-Arbeiter Metoro Tau’a Ure ausfindig, der behauptete, er könne die seltsamen Zeichen auf den Holztafeln deuten. Metoro nahm eine Tafel in die Hand und begann, die unterste Zeile von links nach rechts zu lesen. Dann drehte er die Tafel um 180 Grad, so dass er nun die Zeichen der zweiten oberen Reihe weiterverfolgte, die zur ersten gelesenen Reihe über Kopf standen. Am Ende der Zeile drehte er die Tafel erneut um 180 Grad und setzte seine Lesung mit der nun dritten Reihe von unten fort, die in der Ausrichtung wieder mit der ersten Reihe übereinstimmte. Diese Lesart ist als revers-boustrophedon auch von einigen wenigen anderen Schriften bekannt. Seine Worte machten jedoch wenig Sinn. „Ich lese wie die Priester, aber ich weiß nicht, was ich sage“, entschuldigte sich Metoro. Das mochte ihm Jaussen nur zu gerne glauben. „Er ist durchbohrt. Es ist der König. Er ging zum Wasser. Der Mann schläft gegen blühende Frucht. Der Posten ist aufgesetzt…“ interpretierte der Rapanui die Zeichen. Es ist nicht klar, ob Metoro das Geschriebene nicht lesen konnte, weil er es nie gelernt hatte und nur fabulierte, oder ob Rongorongo überhaupt nicht gelesen wird, sondern nur eine Kette von Gedächntnisstützen ist, um an ihnen entlang eine Geschichte zu erzählen. Jaussen war so entmutigt von diesen Versuchen, dass er sie nie veröffentlichte. Erst nach dem Tod des Bischofs wurden die Aufzeichnungen publik – und erregten das Interesse des Malers Paul Gaugin, der 1893 den Hintergrund seines Bildes „Merahi Metua no Tehamana“ (Die Vorfahren von Tehamana) mit Rongorongo-Zeichen ausmalte.
1886 kam der amerikanische Navy Offizier William Judah Thomson für einen zweiwöchigen Urlaub auf die Osterinsel, um die Schrift zu entschlüsseln. Er fand dort den 83-jährigen Ure Va’e Iko, der angeblich die Zeichen seiner Vorfahren noch kannte. Doch Ure Va’e Iko war störrisch – er dürfe die heiligen Tafeln nicht lesen, behauptete der alte Mann. Thomson flösste ihm reichlich Alkohol ein und überredete ihn schließlich, die Texte von Fotos der Tafeln aus dem Besitz Jaussens abzulesen. Statt mit einer Entzifferung von Rongorongo endete der Versuch jedoch in noch größerer Verwirrung. Keine der Lesungen deckte sich mit denen von Metoro Tau’a Ure. Stärker noch als beim ersten Versuch entstand der Eindruck, dass Ure Va’e Iko die Symbole nur benutzte, um die Legenden seines Volkes nachzuerzählen. Leider ließ es Thomson in seinen Aufzeichnungen an Sorgfalt fehlen. Zwar dokumentierte er die einzelnen Geschichten phonetisch und in Übersetzung, vermerkte jedoch nicht, von jeweils welcher Tafel Ure Va’e Iko sie „abgelesen“ hatte. Das Kernstück von Ure Va’e Ikos Lesung besteht aus der Rapanui-Legende „Atua-Mata-Riri“ (Gott der ärgerlichen Augen). Dabei handelt es sich um eine lange Aufzählung von Begegnungen zwischen Göttern, die zur Erschaffung der Welt führten. Sie alle folgen dem gleichen Muster: Gott X beschlief Gott Y und zeugte dabei Z.
In den 1950er Jahren gab es eine Welle neuer Versuche der Entzifferung. Eine Gruppe im russischen St. Petersburg, die sich um Juri Valentinowitsch Knorozov – einem Mit-Entzifferer der Maya-Gyphen – gebildet hatte, schlug ein System vor, nach dem die Rongorongo-Symbole in vier verschiedene Kategorien einzuteilen seien: In Logogramme (Symbole, die eine Idee oder einen Sachverhalt darstellen, wie zum Beispiel das Kaufmanns-Und „&“ oder der Klammeraffe „@“), Logogramme mit Determinativen (bestimmende Symbole die den Geltungsbereich eines Wortes kennzeichnen, wie etwa „männlich“ oder „weiblich“, „mein“ oder „dein“), phonetische Zeichen (Symbole, die jeweils nur einen einzelnen Laut repräsentieren) mit Determinativen und rein phonetische Zeichen. Dieser Versuch war jedoch nicht schlüssig und erwies sich bald als Sackgasse.
Ähnlich erfolglos blieb der Ordnungsversuch des ehemaligen deutschen Wehrmachts-Kryptografen Thomas Barthel. Er veröffentlichte 1958 in Scientific American einen Artikel mit der Überschrift „Die sprechenden Tafeln der Osterinsel“. Doch seine Untersuchung der Symbole auf Häufigkeit, Umgebung und wiederkehrende Muster und die daraus resultierende Anordnungs-Tabelle (hauptsächlich auf der Basis von Formvergleichen, nicht auf einer strukturellen Analyse der Zeichenfolgen) führte letztendlich auch nur zu einer zwar nachvollziehbaren, aber willkürlichen Ordnung – zum „Sprechen“ brachte sie die Tafeln jedenfalls nicht.
Einen ersten wirklichen Erfolg konnte in den 1990er Jahren der in Australien lebende Computerlinguist Jaques Guy vermelden. Schon Thomas Barthel hatte erkannt, dass es sich bei einer Passage auf der sogenannten Mamari-Tafel um einen Kalender handeln muss: Die Abfolgen der Symbole sind immer wieder unterbrochen von Sicheln des zu- beziehungsweise abnehmenden Mondes. Guy gelang es nun, die einzelnen Textabschnitte dieser Passage den Namen der Tage im Lunar-Monat der Rapanui zuzuordnen, wie sie zuerst von William Thomson, später in den 1930er Jahren dann von dem Linguisten Alfred Mtraux und schließlich von dem Kapuzinermönch Pater Sebastian Englert, der von 1935 bis zu seinem Tod 1969 auf der Osterinsel lebte, überliefert sind. Bis heute ist dieser Kalender auf der Mamari-Tafel der einzige Rongorongo-Text, den wir zweifelsfrei lesen können.
Nicht immer funktioniert der Vergleich mit bekanntem Textgut. Der Amerikaner Steven Roger Fisher versuchte sich an dem von Ure Va’e Iko erzählten Mythos „Atua-Mata-Riri“, nachdem er auf dem Santiago-Stab – einem Holzstecken mit Rongorongo Zeichen, der im Museum der chilenischen Hauptstadt aufbewahrt wird – eine sich immer wiederholende Sequenz entdeckt hatte. Nach einem Trennstrich, der die einzelnen Zeichen-Gruppen abteilt, ist den Symbolen meist ein Anhängsel beigefügt, das Fisher als Phallus interpretierte. Darauf folgen noch zwei weitere Zeichen vor dem nächsten Trennstrich, also stets die Folge X(mit Phallus) + Y + Z. Darin meinte Fischer, die Formel des Rapanui-Mythos zu erkennen: Gott X beschlief Gott Y und zeugte dabei Z. Er ging sogar noch weiter. Fast alle Texte der Rapanui ließen sich in diese Dreiergruppen aufteilen. Zwar sei bei den meisten kein Phallus beigefügt, diesen habe man aber in der Notation auch auslassen können – ähnlich wie wir heute bei der Auflistung von Lebensdaten auch nur die Jahreszahlen nennen, jedoch auf die ausführliche Bezeichnung „geboren im Jahr“ und „gestorben im Jahr“ verzichten. Fischers These hat jedoch zwei wesentliche Schwächen. Zum einen lassen sich selbst in den Texten, die Trennstriche verwenden, nicht immer Dreiergruppen bilden. Zum anderen hat Jaussens „Übersetzer“ Metoro Tau’a Ure dem Begriff „Phallus“ ganz andere – sogar verschiedene – Zeichen zugeordnet als Fischer. Dessen Kollege Guy kommentierte den Vergleich des „Atua-Mata-Riri“-Mythos mit dem Santiago-Text äußerst bissig. Das sei, als wolle man sagen: „Hunde haben vier Beine, Tische haben vier Beine. Also wedeln auch Tische mit dem Schwanz und pinkeln gegen Bäume.“
Vielversprechend sind die jüngsten Entzifferungsversuche des Experten für westafrikanische Sprachen, Konstantin Pozdniakov, der als ein Nachfolger Knorozovs in St. Petersburg arbeitet. Noch hat der russische Linguist nur wenige seiner Ergebnisse veröffentlicht, doch deutet er bereits an, dass sich Rongorongo in ein Set von 55 Elementen gliedern lässt, aus denen die Zeichen zusammengesetzt werden. Das wäre ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Sprache weder mit Logogrammen noch mit phonetischen Zeichen, sondern auf der Basis von Silben operiert – denn Logogramme (wie etwa im Chinesischen) würden weitaus mehr, phonetische Zeichen (wie unsere Buchstaben) weniger Symbole erfordern. Weiterhin arbeitet er an Häufigkeitsanalysen von seinen „Elementen“, um diese mit der Häufigkeit der Silben vergleichen zu können, die aus den Aufzeichnungen Thomsons bekannt sind. Dabei stößt er allerdings auf das Problem, dass sich die Sprache zwischen dem Zeitpunkt der Aufzeichnung von Rongorongo und dem des Interviews mit Ure Va’e Iko bereits stark gewandelt haben kann.
Bis heute bewahrheitet sich der Ausruf, den der Kapuzinermönch Pater Sebastian Englert dem legendären ersten Siedler Hotu Matu’a in den Mund legte: „Unsere ko hau rongorongo sind verloren! Künftige Ereignisse werden diese heiligen Tafeln zerstören, die wir mit uns gebracht haben, und auch solche, die wir erst in unserem neuen Land herstellen werden. Männer fremder Rassen werden die wenigen, die bleiben, als kostbare Objekte bewahren, und ihre Moari werden sie erfolglos studieren, ohne sie lesen zu können. Unsere ko hau motu mo rongorongo werden für immer verloren sein. Aue! Aue!“
Erschienen in der Reihe Schrift und Sprache, Abenteuer Archäologie 1/2004.