Der Kater nach dem Kalten Krieg

Die Museumifizierung einer Epoche
Teil III: Deutschland

Dies ist die Langeversion einer Arbeit, die stark gekürzt unter dem Titel „Was vom Schrecken übrig blieb“ in Zeit Wissen vom 16. Januar 2005 erschienen ist.

Rund vierzig Jahre war unser Land Brennpunkt des Kalten Krieges, die Nahrstelle zwischen den Supermächten. Doch von den materiellen Resten dieser Epoche ist kaum etwas übrig geblieben. Mit ihnen verschwindet auch unsere Möglichkeit zur Erinnerung – und Selbsterkenntnis.

Im Mittelalter sammelten wir Splitter des Kreuzes. Furchtlose Ritter zogen nach Jerusalem und brachten uns in ihren Satteltaschen Holzsplinte, manchmal auch rostige Nägel oder vertrocknete Dornenzweige mit, die vom Leid des Gottessohnes erzählten. In unseren Kirchen verehrten wir fortan die Reliquien als heilige Zeugnisse der Existenz Jesu. Nicht immer müssen Memorabilia von so gravierender Schwere sein. Machmal ruft uns auch eine Locke der Geliebten ihren Geruch ins Gedächtnis, manchmal ein Fläschchen mit Sand die Sonne über Frankreichs Stränden. Doch immer sind es Teile eines großen Ganzen, die wir aufbewahren, um uns zu erinnern. An Leid. An Freude. An Hoffnung.

Am 9. November 1989 begannen wir, die Berliner Mauer zu zerstückeln und ihre Einzelteile in unseren heimischen Wohnzimmern zur Schau zu stellen. Findige Geschäftemacher verliehen in diesen Tagen Hämmer und Meißel an ungerüstete Steinesammler. Manch Händler füllte in weiser Vorraussicht seinen Keller mit bunten Bruchstücken – als Kapitalanlage für die Zukunft. Auf dem internationalen Kunstmarkt erzielten üppig dekorierte komplette Mauerelemente Höchstpreise von 300 000 US Dollar. Und fast sofort erblühte auch der Handel mit Fälschungen, wurden in Garagen Betonplatten mit Farbe besprüht und souvenirgerecht zerklopft. Was die Höker auf den Basaren Jerusalems bereits im Mittelalter beherrschten, konnten ihre Kollegen des 21. Jahrhunderts schon lange.

Wir alle wollten damals einen Mauerbrocken, um uns zu erinnern. Und wir alle wollten, dass die Mauer so schnell wie möglich verschwindet, damit wir uns nicht mehr täglich an unsere deutsch-deutsche Vergangenheit erinnern müssen. Mit atmeberaubender Geschwindigkeit machten wir uns daran, jede Spur des Bauwerks aus dem Gesicht der einst geteilten Stadt Berlin zu tilgen. Mit Erfolg. Bald schon gab es mehr Mauerbrocken in deutschen Wohnzimmern als im Stadtbild Berlins. Heute, nur fünfzehn Jahre später, muss der Senat der Hauptstadt einen Archäologen beschäftigen, um zu dokumentieren, was überhaupt einst da war. Mit archäologischen Methoden liest Leo Schmidt Informationen aus dem Boden, die längst mit bloßem Auge nicht mehr sichtbar sind. Mal dokumentiert er einen knapp über dem Boden abgesägten Metallträger. Mal kartiert er einen Lampenpfosten in einer heute gutbürgerlichen Straße, der einst Republiklüchtlinge im grellem Licht zum leichten Ziel für Grenzsoldaten machen sollte. Er leistet seine Arbeit, damit wir uns überhaupt erinnern können. Damit wir nicht irgendwann vor einer Stadt-Kulisse stehen, die uns eine Vergangenheit vorgaukelt, wie sie nie war.

„Wenn ein Herrschaftssystem verfällt oder gestürzt wird, verlieren die von ihm geschaffenen Denkmäler, soweit sie der Legitimation und Festigung des Herrschaftssystems dienten, grundsätzlich ihre Existenzberechtigung“, urteilte das Berliner Abgeordnetenhaus im Juni 1992. Diese Feststellung klingt wie ein Echo aus George Orwells Zukunfts-Roman „1984“: „Die Jahrhunderte des Kapitalismus hatten angeblich nichts von irgendwelchem Wert hervorgebracht. Aus der Architektur konnte man Geschichte ebenso wenig lernen wie aus Büchern. Statuen, Inschriften, Gedenksteine, Straßennamen – alles, was Licht auf die Vergangenheit werfen konnte, war systematisch verändert worden.“ Wir können uns kaum vorstellen, die Mauer eines Tages zu vergessen. Aber die meisten unserer Erinnerungsbrocken haben wir längst in irgendwelchen Schuhkartons im Keller verstaut. Und schon heute sind unsere Gymnasien voll von Schülern, die sich nicht mehr an die Mauer erinnern können – selbst wenn sie es wollten. Diese Kinder waren am 9. November 1989 noch gar nicht auf der Welt. Die Mauer ist für sie ein historisches Relikt, dessen Daten (1961 – 1989) sie im Geschichtsunterricht ebenso lernen müssen wie die des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648). Niemand käme auf die Idee, den Westfälischen Frieden aus den Geschichtsbüchern streichen zu wollen, nur weil er uns an eine Zeit blutiger Territorialkriege erinnert.

Aber mit erschreckender Gründlichkeit machen wir uns in Deutschland daran, zu verändern, zu vertuschen, zu vergessen, wo wir nur können. Nicht nur die Berliner Mauer. Die gesamten materiellen Überreste des Kalten Krieges fegen wir stillschweigend hinweg wie Konfetti nach einer Silvesternacht. Es herrscht Katerstimmung in unserem Land. Und die treibt Demonstranten auf die Straße und Wähler in die Arme der Rechtsparteien. Wer sind wir wirklich? Und was wollen wir? Um das herauszufinden, sollten wir sorgsam mit unseren materiellen Resten der Vergangenheit umgeghen – und sie nicht abreißen, totschweigen, umbenennen oder in teuren Neubaugrund verwandeln. Narben werden immer bleiben. So ist Geschichte nun einmal. Narben wie die 33.868 Minen, die noch heute an der ehemaligen innerdeutschen Grenze liegen. Von insgesamt 1.322.700 verlegten Minen fanden die Grenztruppen der ehemaligen DDR bei einer großen Räumaktion im Jahr 1985 nur noch 1.288 832. Sollen wir die fehlenden Minen vielleicht besser vergessen? Weil Erinnern ja so unbequem ist?

Oder was ist mit der Dienststelle Marienthal, einst „Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes“ in den Weinbergen um Bonn? Der Bunker, der im Ernstfall eines atomaren Angriffs unsere Regierung hätte aufnehmen sollen, war noch vor 20 Jahren so geheim, dass schon die Erwähnung seiner Existenz als Landesverrat galt. Sollen wir auch dieses Monument des Kalten Krieges stillschweigend im Dunkel der Vergangenheit versinken lassen? Dabei zeugt allein die Größe der Dienststelle Marienthal von der Ernsthaftigkeit, mit der Westdeutschland der Gefahr eines dritten Weltkrieges begegnete. Unter 112 Metern Schiefergestein liegen in den Hängen des Ahrtals um die 19 Kilometer Tunnel, von denen 897 Büro- und Konferenzräume sowie 936 Schlafzellen mit Feldbetten abgehen. Die Einrichtung ist in allen Zimmern gleich spartanisch: Selbst der Kanzler hätte seine Nächte auf einer Bundeswehrmatratze verbringen müssen. Hinzu kommen Kantinen, Duschen, Krankenräume, eine Druckerei, ein Friseursalon, ein Fernsehstudio und eine Poststation – wofür auch immer diese in den Tagen nach einem Atomkrieg dienen sollte. Einen Sportraum oder eine Bibliothek haben die Planer den Abgeordneten dagegen nicht zugestanden. Insgesamt hätte die deutsche Regierung unter Tage 83 000 Quadratmeter Auslauf gehabt. Zur Bewältigung der immensen Distanzen standen Fahrräder bereit. 25.000 Türen sollten im Ernstfall die Privatsphären der Überlebenden wahren – doch nur 38 konnten sie wieder in die Oberwelt entlassen.

Dagegen nimmt sich die unterirdische Fluchtburg der US-amerikanischen Regierung geradezu bescheiden aus. Gerade einmal 1000 Leute konnte der Bunker im Greenbrier-Ressort in Virginia beherbergen, nur ein Drittel so viel wie wir Deutschen zur Sicherung der Regierungsgeschäfte für nötig erachteten. Zwischen 1960 und 1972 hat der Bau der Dienststelle Marienthal den deutschen Steuerzahler über drei Milliarden Mark (ca. 1,5 Milliarden Euro) gekostet. Doch während die Amerikaner sich den Erhalt ihres ehemaligen Regierungsbunkers heute mit Eintrittsgeldern für Besichtigungstouren finanzieren, machen wir lieber noch einmal weitere 100 Millionen Euro für den Rückbau locker, um die Anlage auch wirklich gründlich vergessen zu können. Dabei gab es für das Objekt jede Menge kreative Vorschläge zur Umgestaltung: Eine Techno-Disco könne man daraus machen, oder eine Jugendherberge. Sogar eine unterirdische Champignon-Farm stand zur Debatte. Doch das Bundeskabinett entschied, die Gänge zu fluten, die Türen zur Außenwelt zu verschütten. Und dann ganz viel Gras darüber wachsen zu lassen.

Dabei wäre die Dienststelle Marienthal ein schönes Objekt gewesen, um die Vielschichtigkeit von Deutschlands Außenbeziehungen im vergangenen Jahrhundert zu dokumentieren. Im Jahr 1910 entstand eine Eisenbahnlinie durch das Ahrtal. Sie sollte den Weg zum „Erzfeind Frankreich“ verkürzen, um im Kriegsfall möglichst schnell Truppen, Gerät und Nachschub gen Westen schaffen zu können. Bei diesen Baumaßnahmen entstand ein etwa drei Kilometer langer Tunnel. Doch bevor die Bahntrasse fertig gestellt werden konnte, brach 1914 der Erste Weltkrieg aus. Die folgenden vier Jahre reichten nicht aus, den Gleisabschnitt funktionstüchtig auszubauen – und nach Ende des Krieges sprengten die Franzosen Teile des Tunnels. Im Zweiten Weltkrieg entsann man sich der unterirdischen Anlage und baute hier geschützt vor alliierten Luftangriffen V1- und V2-Raketen zusammen. Als dann Ende der 50er Jahre der Kalte Krieg zunehmend kälter wurde und die Bundesregierung nach einem passenden Unterschlupf suchte, bot der stillgelegte Eisenbahntunnel ideale Vorraussetzungen. Insbesondere die dicke Schieferdecke und die Weitläufigkeit der Röhre machten ihn zum perfekten Rückzugsort im Ernstfall. Wie schön hätte man hier, in der kalten Neonlicht-Atmosphäre, die wechselnden historischen Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn und Verbündeten museal aufarbeiten und der Öffentlichkeit präsentieren können.

Doch sind wir uns unserer Rolle im Kalten Krieg überhaupt bewußt? Deutschlands Stellung als Prellbock zwischen den beiden Supermächten wurde und wird bis heute seltsam totgeschwiegen. Solange der Kalte Krieg noch tobte, durften wir die Frage nach unserer Rolle nie standpunktneutral stellen. Und als das politische Klima sich schließlich erwärmte und die Mauer fiel, richtete sich unser Blick verständlicherweise nach Innen – wo er bis heute ruht. Womit sollen wir die Geschichtsbücher füllen? Der Diskussion stellen wir uns jedenfalls nicht, indem wir die materiellen Zeugnisse der Vergangenheit mit Gras bedecken.

Viele dieser Gebäude oder Verteidigungsanlagen verschwinden von der Bildfläche, bevor sie je den Weg ins Bewußtsein der Öffentlichkeit antraten. So wie die tausenden von „vorbereiteten Sperren“, die im Verteidigungsfall den Vormarsch der Streitmächte des Warschauer Paktes hätten aufhalten sollen. Eines der spektakulärsten Beispiele für diese Sperrvorrichtungen lagerte über dem Südportal des Hamburger Elbtunnels. Im Ernstfall wäre durch eine Sprengung der Querträger im Abblendbereich der Tunneleinfahrt über jedem Röhreneingang ein rund sechs Meter langes und 107 Tonnen schweres Betonsegment auf die Fahrbahn gefallen und hätte sich mit Stahlbolzen tief in den Straßenbelag gebohrt. Somit wäre die A7, an dieser Stelle das Nadelöhr für den gesamten Straßenverkehr in Nord-Süd-Richtung, unpassierbar geworden. Als Sperrmaßnahme waren die Betonblöcke ideal: mit einem Preis von nur DM 850 000 kostengünstiger und auch weitaus risikoärmer als eine Flutung, wie sie ebenfalls für den Elbtunnel zur Debatte stand. „Das Ausmaß der zu erwartenden Zerstörungen bei Auslösung Vorbereiteter Sperren ist soweit zu beschränken, dass Totalzerstörungen möglichst vermieden werden, und nur eine taktisch unbedingt erforderliche Sperrdauer erzielt wird“, hieß es im Grundsatz der Wallmeisterorganisation, bei der die technische Verantwortung für die Sperranlagen lag. Die vorbereitete Sperre der Elbunterquerung war eine der letzten Verteidigungsmaßnahmen gegen die Bedrohung aus dem Osten. Sie wurde noch knapp einen Monat nach den Fall der Mauer, am 7. Dezember 1989 fertiggestellt. Bei Tunnelbauarbeiten im Jahre 2000 verschwanden die Betonteile unauffällig wieder vom Südportal.

Mindestens zweimal jährlich fanden Wartungen aller Sperreinrichtungen statt. Die zuständigen Wallmeistertrupps tarnten sich dabei als zivile Straßenbauarbeiter. Bis 1992 behielten sie bei ihren Arbeiten diese Verkleidung bei. Inzwischen sind fast alle vorbereiteten Sperren ab- oder zurückgebaut. Sprengschächte im Fahrbahnbelag wurden verfüllt, Fallsperren demontiert und steckbare Panzersperren entfernt. Noch bevor wir beginnen konnten, uns für diese historischen Anlagen zu interessieren, lag schon Asphalt über der Angelegenheit.

Ebenso stillschweigend verschwindet eine weitere Art von Relikten des Kalten Krieges: die Autobahn-Notlandeplätze. Diese waren weniger – auch wenn der Name dies suggerieren mag – als Landemöglichkeit für in Not geratenen Flugzeuge gedacht. Vielmehr sollten sie im Krisenfall den NATO-Verbänden als Start- und Landeplätze dienen. Gleiches galt für die BSLB‘s (Behelfs-Start- und Landbahnen) in der ehemaligen DDR, die dann für sowjetische Flieger bereit gestanden hätten.

Dass dies reibungslos funktionieren konnte, bewiesen beispielsweise im März 1984 NATO-Truppen bei der Endabnahme des Notlandeplatzes Ahlhorn auf der A 29 bei Großenkneten. Im Rahmen des Manövers „Highway 84“ landete und startete hier die gesamte Crème-de-la-Crème der Militärflugzeuge des Westens: F-15, F-16, Starfighter, Phantom, Tornado, Alphajet, Jaguar, Fairchild A-10A, NF-5, Mirage III, C-160 Transall, C-103 Hercules, Do-28, Bell UH-1D und BO-105. Es dauerte nur vierundzwanzig Stunden, einen Notlandeplatz funktionsfähig einzurichten. Einzige ständige Vorrichtungen waren dabei ein Post-Hauptanschluss und ein vorbereitetes Netz aus Zweidraht-Leitungen. Einen mobilen Kontrollturm, Radar- und Funktechnik sowie provisorische Landebahnmarkierungen mussten die Truppen im Bedarfsfall mitbringen. Die Vorraussetzungen für die Nutzung eines Autobahn-Teilstücks als Notlandeplatz wurden schon seit den 1960er Jahren beim Bau neuer Streckenabschnitte mit eingeplant – soweit die Anlagen nicht bereits aus dem zweiten Weltkrieg stammten.

Ein schnurgerades Stück Fahrbahn von 1500 bis 3500 Metern Länge und mindestens 23 Metern Breite bekam einen durchbetonierten Mittelstreifen. Die „Europa-Leitplanke“ zwischen den Richtungsfahrbahnen sowie die Haltepfosten waren nur gesteckt, so dass sie innerhalb kürzester Zeit entfernt werden konnten. Natürlich musste an entsprechender Stelle auch der Verkehr großräumig umgeleitet werden können und auf betonierten Flächen links und rechts der Fahrbahn – üblicherweise getarnt als Parkplätze – ausreichend Stellplatz für Flugzeuge bestehen. Heute erinnern nicht einmal mehr Gedenktafeln an diese ehemaligen Verteidigungsanlagen des Kalten Krieges. Im Zuge von Bauarbeiten werden auch die Notlandeplätze zurückgebaut: die Parkplätze verkleinert, die Leitplanken fest installiert, und über die Mittelstreifen wächst neues Gras.

Warum konfrontieren wir uns nicht mit der Rolle, die wir im Kalten Krieg gespielt haben? Wir waren die Reibsteine zwischen den Supermächten, hochgerüsteter Boden einer potentiellen Schlacht um die Weltherrschaft. Vielleicht wäre das Zusammenleben beider Hälften Deutschlands harmonischer, wenn wir uns dieses Erbes bewußt wären. Wenn wir unsere Schulklassen zu den Stätten des Kalten Krieges führen könnten – damit unsere Kinder lernen, wie gut und richtig es war, die Vergangenheit hinter uns zu lassen. Es liegt an uns, die Geschichtsbücher der Zukunft zu schreiben. Die Mauerbrocken wieder aus den Schuhkartons hervorzuholen. Mögen nicht Gras und Asphalt unsere Mittel zur Vergangenheitsbewältigung sein – sondern Museumsbauten und Druckerschwärze.

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