„Es war ein Selbst-Völkermord…“

Die Museumifizierung einer Epoche
Teil II: Der Osten

Dies ist die Langeversion einer Arbeit, die stark gekürzt unter dem Titel „Was vom Schrecken übrig blieb“ in Zeit Wissen vom 16. Januar 2005 erschienen ist.

Im Kalten Krieg gab es zwei Gegner, die sich fast ein halbes Jahrhundert lang im Gleichgewicht des Schreckens hielten. Doch die Erinnerung an das, was in dieser Zeit geschah, könnte heute auf beiden Seiten kaum unterschiedlicher aussehen. Ein Blick in die Museen der ehemaligen UdSSR erzählt von der „zweiten Front“ des Kalten Krieges.

Pilze müssen ein lukratives Geschäft sein. Denn immerhin verdient Viliumas Malinauskas mit ihrem Abfüllen in Dosen so viel, dass er sich einen eigenen Vergnügungspark leisten kann. Nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius eröffnete der 60-jährige, der als reichster Mann des Landes gilt, seinen „Grutas Park für Plastiken der Sowjetzeit“. Hier stehen auf 20 Hektar 86 Skulpturen von 46 Künstlern. Doch wird sich kaum ein lustwandelnder Kunstliebhaber in seinen Garten verirren. Malinauskas‘ Skulpturenpark ist vielmehr eine Schrottsammlung. Als 1998 das litauische Kulturministerium die Bildnisse der Sowjetherrscher, die einst öffentliche Plätze und Gebäude schmückten, zum Verkauf anbot, schlug der Besitzer der „Hesuna“-Pilzkette zu und erwarb den gesamten Bestand an Alt-Skulpturen der ehemaligen sowjetischen Teilrepublik.

Im Grutas Park stehen sie nun, die Marxens und Lenins, eingebettet in einen Themenpark mit dem schaurigen Motto: „Gefangenenlager“. Aus den Lautsprechern tönen blechern die alten Sowjet-Hymnen, Wachtürme überragen das stacheldrahtumzäunte Gelände. Die Litauer mussten nicht lange Überlegen, bis sie einen passenden Namen für ihre neue Touristenattraktion fanden: „Stalin World“. Mit dieser Einrichtung, so erklärte der Millionär, demonstriere sein Land eine gesunde Einstellung zur Geschichte und ließe endgültig die tragische Sowjetzeit hinter sich. Auch seine Familiengeschichte arbeitet Malinauskas in dem Park auf: Den eigenen Vater hatten seinerzeit die Sowjets deportiert. Die lautstarke Kritik von Seiten der Opfer der Sowjetherrschaft an seiner Idee, das Grauen der Vergangenheit in einem Vergnügungspark zu vermitteln, prallt denn auch spurlos an dem Pilz-Mogul ab. Jede Art von öffentlicher Diskussion um die Ethik einer solchen Darstellung von Geschichte nimmt Malinauskas als willkommene Publicity hin. Für seine zwei Euro Eintritt bekommt der Besucher was geboten: Neben den Skulpturen gibt es eine Gemäldegalerie, ein Restaurant – in dem stilecht „Erinnerungsgerichte aus der Sowjetzeit“ serviert werden – einen Spielplatz und einen kleinen Zoo. Riesige Poster stimmen die Ankömmlinge schon am Eingang auf den Spaß ein, der sie im Camp erwartet: „Es gibt keine glücklichere Jugend auf Erden als die sowjetische Jugend!“

Was macht sie heute, diese damalige sowjetische Jugend, die ihre besten Jahre unter der Herrschaft eines totalitären Regimes verlebte? Wie geht sie mit der Erinnerung an die Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion um? Einer ihrer Sprecher ist der Dichter Yevgeni Yevtuschenko. Immer auf dem schmalen Grad zwischen Konformismus und Zensur führte der Poet mit berührend persönlichen Gedichten eine ganze Generation durch die Jahre des Kalten Krieges. „Ich denke, ich stimme Sartre zu“, beschrieb der Lyriker Ende der 90er Jahre in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CNN seine Sichtweise des Konfliktes um die Vormachtstellung in der Welt, „dass das 20. Jahrhundert zwei Monster geboren hat: dogmatischen Kommunismus in Stalins Version, und Anti-Kommunismus als zweites Monster. Und ich denke, der Kalte Krieg ist die schreckliche Geschichte des Kampfes dieser beiden Dinosaurier. (…) In ihrer Konfrontation zermalmten sie Menschen, Beziehungen zwischen Menschen, menschliche Kontakte, menschliche Seelen – das war die Tragödie des Kalten Krieges.“

Wie anders klingt diese Version als das, was die US-Museen ihren Besuchern als Geschichte des Kalten Krieges verkaufen. Während in den Vereinigten Staaten mit unverhohlenem Stolz die Waffen des Kalten Krieges als Museumsstücke zur Schau gestellt werden, rückt Yevtuschenko persönliche Schicksale in den Mittelpunkt. Von Waffen ist keine Rede. Wo sind sie hin, die Interkontinentalraketen, die bei Paraden auf dem Roten Platz zu bewundern waren? Was ist aus den Raketenstellungen im Ural geworden? Sie tauchen nicht einmal mehr in der Erinnerungskultur Russlands auf – geschweige denn leibhaftig in einem Museum. Vernichtet durch kollektives Vergessen. Statt dessen erinnert das Land diejenigen, die in den Vereinigten Staaten scheinbar gar nicht am Kalten Krieg beteiligt war: Menschen.

Viel Seelenstaub vom Kampf der Dinosaurier liegt noch heute auf dem Ljubjanka-Platz im Herzen von Moskau. Hier residierte der größte Geheimdienst der Welt – zwischen seinen Zahnrädern fanden Regimegegner den Foltertod. Alle Umbenennungsversuche konnten dem Chamäleon des Schreckens nichts anhaben: 1917 als Tscheka gegründet, mutierte die Organisation über GPU und NKWD schließlich zum KGB. Das Kürzel wurde in den Jahren des Kalten Krieges sowohl in Ost als auch in West nur gewispert. Und selbst die post-sowjetischen Umbenennungen in erst MSB, dann MB, FSK und 1995 in FSB konnten den eisigen Hauch, der über den Ljubjanka-Platz weht, nicht vertreiben.

Dabei gibt sich seit 1998 der FSB betont freundlich. Wer will, darf sogar das kleine Museum besuchen, in dem der Geheimdienst die Spionagetechnik eines halben Jahrhunderts verwahrt. Ursprünglich hatte Yurij Andropow, erst KGB-Chef und später Generalsekretär der KPdSU, die Sammlung zu Ausbildungszwecken zusammengetragen. Hier konnten die jungen Geheimdienst-Anwärter bestaunen, was CIA-Agenten an amerikanischer Spionage-High-Tech ins Land schleppten. Zwischen einem mit Gift gefüllten Brillengestell und einem National Geographic-Magazin, in dessen Seiten eine geheime Botschaft codiert ist, treffen wir sogar auf die Erinnerung an einen alten Bekannten: Gary Powers, der 1962 mit seiner U-2 über der Sowjetunion abgeschossen wurde. Während Powers‘ Sohn im heimatlichen Virginia in seinem Cold War Museum den Koffer ausstellt, den sein Vater beim Gefangenenaustausch in Potsdam bei sich trug, liegen in den Vitrinen des russischen Geheimdienstes das Funkgerät des Piloten, seine Pistole mit Schalldämpfer und eine – glücklicherweise nie zum Einsatz gekommene – Gift-Nadel für den schnellen Selbstmord im Falle der Ergreifung. Die bunt zusammengewürfelten Ausstellungsstücke, die ein Zerrbild der amerikanischer Gesellschaft wiedergeben, scheinen den ehemaligen Feind seltsam greifbar zu machen. Blieb doch sonst im Kalten Krieg die Vorstellung der gegnerischen Seite eher ein Konglomerat aus Propaganda, Paranoia und von Neid gespeistem Wunschdenken. „Unser Mangel an Wissen über den Anderen ist wie der eines blinden Bildhauers“, schrieb Yevgeni Yevtushenko 1988 in „Getrennte Zwillinge“, „gefährlich in seiner aggressiven Naivität, der die Figuren unserer so genannten Feinde schafft.“

Der Zeitrahmen der Ausstellung reicht über den Kalten Krieg hinaus bis in die jüngste Vergangenheit. Und wenn die Relikte zweier Kriege so unmittelbar nebeneinander liegen wie in den Vitrinen des FSB, wird der unterschiedliche Charakter, den Konflikte annehmen können, brutal bewusst. In dem aktuellen Krieg Russlands sind es nicht mehr Gentlemen in maßgeschneiderten Anzügen, die höflich mit dem Gegner Frauen und Abhöranlagen tauschen. Die Beute aus Grosnyj sieht anders aus: Eine tschetschenische Mörserkanone, die Rebellen aus der Kardanwelle eines Lastwagens schmiedeten, und ein kruder Sprengsatz aus Nägeln und Dosenschrott.

Der Ljubjanka-Platz hatte einst eine Statue. Felix Edmundowitsch Dserschinskij, Gründer der Tscheka, dominierte ihn von seinem Sockel in der Mitte des Platzes aus. Doch 1991 rissen reformfreudige Russen den ersten Leiter des ersten kommunistischen Geheimdienstes zu Boden. Sein Bildnis steht nun in guter Gesellschaft: Zusammen mit ausrangierten Lenins und Stalins schaut er im Skulpturenpark der Hauptstadt auf die vorbeifließende Moskwa. Die Russen haben – anders als die Litauer – wenigstens pro forma versucht, Vergangenheit und Vergnügen zu trennen. Der Gorki Park liegt gegenüber auf der anderen Straßenseite.

Wen der Geheimdienst einmal als Staatsfeind ausgesondert hatte, kam in ein Lager. Das letzte heute noch stehende liegt tief im westlichen Ural, noch hinter der Stadt Chusovii. Bis 1987 ließ das Regime hier die politisch Aufsässigen verschwinden; unbequeme Schriftsteller, Menschenrechtler und Priester. Astra Gumner saß hier ein, weil der Este George Orwells „1984“ in seine Muttersprache übersetzt hatte, und der Litauer Balis Gayauskas für seine Übersetzung von Aleksandr Solschenizyns „Der Archipel Gulag“. Drei Instrumente nutzten die Wärter in Perm-36, um den Gefangenen das Leben zur Hölle zu machen. Das erste war der Hunger. Die Mahlzeiten bestanden im wesentlichen aus balanda, einer wässrigen Suppe, die weder Geschmack noch Nährwert besaß. Das zweite war die Einsamkeit. Kontakte zu Mitgefangenen war kaum möglich, immer wieder mussten die Insassen lange Phasen der völligen Isolation durchleben. Das dritte war die Kälte. In den frostigen Nächten holten die Wärter die Gefangenen wieder und wieder ins Freie und ließen sie alle Kleidung ablegen, machmal vier, fünf Mal hintereinander. Für die geschwächten Körper konnte jede Erkältung den Tod bedeuten. Kam er endlich, wurden die Toten hastig verscharrt. Ohne Stein, ohne Namen auf ihrem Grab. Alles, was Perm-36 seinen Opfern mit in den Tod gab, war eine Nummer auf einem Holzpflock. Damit nahm es ihnen das letzte, was sie noch vom Leben hatten: die Identität.

Wie kalt ist der Kalte Krieg wirklich gewesen? Ist das, was wir in Perm-36 sehen, überhaupt der selbe Konflikt, den wir von der anderen Seite aus erlebten? Ja, er ist es: Der Kalte Krieg wurde auf zwei Ebenen ausgetragen. Die eine ist die globale, auf der sich USA und UdSSR gegenüberstanden, den Finger stets knapp über dem roten Knopf schwebend. Hier ging es um das Imponieren durch Fakten: nukleare Sprengkraft in Tonnen, Anzahl von Raketenstellungen. Die andere Ebene jedoch ist eine ganz intime. Die zweite Front war – auf beiden Seiten – die Heimatfront. Mit dem Mittel der Angst wurde die Bevölkerung klein gehalten; gefügsam und manipulierbar. Mal trug der Kalte Krieg die Maske der Kommunistenhetze McCarthys. Mal hielt er Hof in Stalins Gulag. Während er sich nach außen so glatt und sauber gab wie die polierte Oberfläche einer Pershing II-Rakete, war dies sein dreckiger Hinterhof. Der Weg, den die USA mit ihrer musealen Aufarbeitung des Kalten Krieges eingeschlagen haben, ist der bequeme. Sie zeigen die materiellen Reste dessen, was schon zu seinen besten Zeiten für alle sichtbar war. Doch gerade im Unsichtbaren an der zweiten Front lauerte sein Schrecken. Im Osten noch brutaler und menschenverachtender als im Westen. Daher bemüht sich Russland, den steinigen Weg des Erinnerns zu gehen.

Nur fünf Jahre nachdem Michael Gorbatschow die Order zur Schließung von Perm-36 gegeben hatte, wurde die Stätte zum Museum. Besucher können hier die beklemmende Realität eines sowjetischen Gefangenenlagers erleben. Eine Ausstellung, die den Opfern gewidmet ist, ergänzt die Anlage. Doch die Wachtürme, die Zäune und die Gebäude, die einst von den Gefangenen selbst errichtet wurden, sind in einem desolaten Zustand. Es fehlt an Geld. Geld würde durch Besucher kommen. Doch Besucher kommen nicht den langen Weg ins Nirgendwo zu dem isolierten Lager. Für viele ist es auch nicht die Strecke, die sie abschreckt. Sie wollen sich nicht erinnern, wollen nicht reden, wollen gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben. Schon zu Zeiten, als in Perm-36 noch Menschen verhungerten und erfroren, war das Lager etwas, über das man nicht sprach. Warum also sollte man es jetzt tun? Jeden Sommer brechen von Perm-36 Expeditionen nach Sibirien auf, unter den Teilnehmern sind auch viele Deutsche. Sie graben Arbeitslager aus, von denen nicht viel mehr übrig ist als ein paar Mauerreste. Wenn sie zurückkommen, haben sie Säcke dabei, voll mit alten Schuhen und rostigen Schaufeln. Die schleppen sie in die Schulen der Region und zeigen sie den Kindern. Denn die Kinder haben von Arbeitslagern noch nie etwas gehört. Ihre Eltern oder Großeltern haben nie mit ihnen darüber geredet.

„Natürlich ahnten wir etwas“, gibt sich auch Yevgeni Yevtushenko eine Mitschuld. „Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass bei Stalins Säuberungsaktionen 20 Millionen Menschen verhaftet wurden. Über 20 Millionen Menschen starben im zweiten Weltkrieg – und wir haben dann die gleiche Anzahl noch einmal verhaftet. Von denen haben wir 14 Millionen Menschen verloren, und wenn wir als eine große Nation überleben, dann ist das ein Wunder. Es war ein Selbst-Völkermord.“

Damit Mord und Folter nicht vergessen werden, kämpft Memorial um die Erinnerung der Russen. Die 1988 gegründete Organisation hat Perm-36 als ständiges Museum eingerichtet. Doch ihr Einsatzgebiet erstreckt sich über das gesamte Territorium der ehemaligen UdSSR. Überall dort, wo Menschen von der Regierung ermordet und ohne Namen verscharrt wurden, versucht Memorial, ihnen die Identität zurückzugeben. Manchmal ist es nur in Form einer bescheidenen Gedenktafel, wie an den Massengräbern in der Nähe von Moskau – aber es ist eine Anerkennung der Existenz der Opfer. „Wie können wir die Wahrheit in einer Welt voller Lügen finden, die unsere Geschichte verschleiern?“ umreißt Memorial seine eigene Aufgabenstellung. „Und ist es den Versuch überhaupt wert? Schließlich ist es bequem, in einer netten und einfachen Welt der Illusion zu leben. Die Realität der Geschichte gibt uns keine Bequemlichkeit, sondern kompliziert alles. Sie schafft Schuld und Verantwortung, reißt alte Wunden auf (…)“.

Eine wirkungsvolle Waffe im Kampf gegen das Vergessen sind die „Bücher der Erinnerung“, die Memorial veröffentlicht. Sie enthalten lange Listen mit den Namen derer, die das Regime zum Schweigen brachte – Verschleppte, Verschwundene, Verscharrte. Hinter jedem Namen steht ein kurzer Lebenslauf. Und wenn möglich sogar noch ein Foto. Bei der Gründung 1988 setzte Memorial sich zum Ziel, einem jeden Opfer einen Namen zu geben, sich eines jeden einzelnen zu erinnern. Doch die Arbeit geht nur langsam voran. Bislang sind nur einige hunderttausend Namen in den „Büchern der Erinnerung“ für die Nachwelt festgehalten. Bis alle erinnert sind, kann so ein ganzes Jahrhundert vergehen. Eine Aktensammlung als Ausgangspunkt für die Arbeit von Memorial existiert nicht. Wer weiß schon genau, wieviele Opfer es wirklich gab? Wo wurden sie begraben? Wo lagen all‘ die Arbeitslager? Nicht einmal die Angehörigen der Opfer wissen Antworten auf diese Fragen. Mit dem Ende der Sowjetherrschaft verschwanden nicht nur die Informationen über die Opfer. Unklar ist auch bis heute der Verbleib von Spendengeldern, die Memorial in den ersten Jahren nach der Gründung gesammelt hatte. Bis 1991 lagen sie auf den Konten des Kulturministeriums der UdSSR.

Wer finanziert die Arbeit von Memorial heute? Bereits seit Beginn der 90er Jahre fließt regelmäßige finanzielle Unterstützung vom amerikanischen National Endowment for Democracy (NED). Die 1983 unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Präsidenten Ronald Reagan gegründete Organisation darf unter privatem Deckmantel staatliche Gelder in Ländern verteilen, in denen sie die Demokratie gefährdet sieht. Mit der gleichen Argumentation unterstützte bereits in den 80er Jahren die US-Regierung die Kontras in Nicaragua, bildete die Taliban aus, als Afghanistan noch unter sowjetischer Besatzung war, und marschierte schließlich im Irak ein. Memorial ist eines der Vorzeigeprojekte des NED. Am 9. Juni dieses Jahres bekam der Direktor von Memorial und ehemaliger Insasse eines russischen Gefangenenlagers Arseny Roginsky den jährlich vergebenen „Democracy Award“ verliehen. Auch Perm-36 würde es ohne die finanzielle Unterstützung des NED nicht geben. So ehrenvoll die Motive von Memorial auch sein mögen, wir müssen uns die Frage stellen: Darf ein Land die Geschichte eines anderen Landes kaufen? Wird hier nicht der Kalte Krieg mit anderen Methoden fortgeführt? Ein nachträglich in der Erinnerungsschlacht gewonnener Krieg ist immerhin fast so gut wie ein wirklich gewonnener. Bislang hat noch kein Internationaler Gerichtshof über den Ausverkauf von Geschichte verhandelt, geschweige denn entschieden. Aber es wird Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Die Aufgaben, denen Memorial sich stellt, enden nicht in der Vergangenheit. Tadschikistan, Inguschetien, Tschetschenien heißen die neuen Einsatzgebiete. Der Kalte Krieg mag vorbei sein. Die Methoden, mit denen er in der ehemaligen Sowjetunion gegen die eigene Bevölkerung gefochten wurde, sind Alltag wie eh und je. In ihrer Selbstbeschreibung gibt Memorial sich zwei Ziele vor: „1.) Die uneingeschränkte Anerkennung der menschlichen Individualität, des menschlichen Lebens und der Freiheit grundlegender menschlicher Werte und 2.) die Präsentation von Geschichte als ungebrochenes Ganzes, bestehend aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Für die vielen hundert Freiwilligen, die für Memorial Baustein um Baustein das Erinnern zusammentragen, bedeutet ihre Aufgabe weitaus mehr, als nur Bücher zu schreiben. Der Umgang mit Geschichte wird für sie zu Gegenwarts-Politik. „Eine Gesellschaft ohne eigene Erinnerung wird willig jedem Demagogen in die Hände spielen;“ reflektiert die Organisation die jüngste Vergangenheit. „Wie schlimm die Vergangenheit auch gewesen sein mag – sie zu vergessen wird die Zukunft nur schlimmer machen.

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