Im Streichelzoo des Schreckens

oder Die Museumifizierung einer Epoche
Teil I: Der Westen

Dies ist die Langeversion einer Arbeit, die stark gekürzt unter dem Titel „Was vom Schrecken übrig blieb“ in Zeit Wissen vom 16. Januar 2005 erschienen ist.

Der Kalte Krieg ist vorbei. Doch wie soll man eine militärische Auseinandersetzung definieren, die nie im klassischen Sinne „gewonnen“ wurde? Wer schreibt die Chronik eines Konfliktes, wenn beide Seiten nach seinem Ende noch über international gewichtige Stimmen verfügen? Und wie bewerten die Ex-Kontrahenten in der Retrospektive das Geschehen? Ein Blick auf die materiellen Reste und musealen Aufarbeitungsversuche schafft einen ersten Überblick.

Auf der Lichtung grast ein Weißwedelhirsch. Das in den Everglade-Sümpfen Floridas vom Aussterben bedrohte Tier mit dem auffallend hellen Schwanz hat dort nur einen natürlichen Feind, den seltenen Florida Panther. Doch so gefährlich der Restbestand dieser Großkatzen für den Hirsch auch sein mag, viel tödlicher war einst das, was heute das Gras bedeckt, an dem der Weißwedelhirsch friedlich nibbelt: fast 5000 Kilogramm schwer, 12 Meter lang, 3,65 mal so schnell wie der Schall und mit einem Nuklearsprengkopf bestückt. Nike-Herkules Boden-Luft-Raketen. Von hier aus, von der Florida-Halbinsel, die sich nur knapp 230 Kilometer nördlich des kommunistischen Kuba dem Feind entgenenreckt, sollten sie im Ernstfall sowjetische Flugzeuge und Kriegsschiffe abfangen, bevor diese das amerikanische Festland erreichten. Heute hausen in der ehemaligen Raketenstellung bedrohte Tierarten. Neben Weißwedelhisch und Florida-Panther beheimaten die umliegenden Pinienwälder seltene Papierwespen und ausgewilderte Truthähne. Die letzte verbleibende Stellungsbarracke nutzten die Ranger, auf dem alten Rollfeld liegen die kleinen Sumpf-Boote des Biscayne National Park aufgedockt, die übrigen Gebäude hat sich nach der Verwüstung durch Hurricane Andrew im August 1992 der Dschungel zurückgeholt.

Damit ist der Ort der ein Paradies für Archäologen. Denn hier, unter dem grünen Teppich des Vergessens lagern die materiellen Überreste des längsten militärischen Konfliktes, in den die Vereinigten Staaten von Amerika jemals involviert waren: des Kalten Krieges. Die Aufgabe der Archäologie ist es, der Natur wieder zu entreißen, was die Menschheit braucht, um sich an ihre Vergangenheit zu erinnern – seien es Grabkammern im Wüstensand oder Raketenstellungen im Sumpf. Und da der Kalte Krieg, obwohl eben erst vorbei, in der kollektiven Erinnerung bereits langsam aber sicher versinkt wie diese Raketenstellung in den Everglades, arbeiten derzeit weltweit Archäologen und Historiker an der Ausgrabung und Dokumentation seiner Relikte. „Geschürt wird das Interesse an der jüngeren Geschichte hierzulande noch durch ein generelles Nostalgie-Bedürfnis in Folge des 11. September, das auf bemerkenswert breiter Front von vielen Schichten der amerikanischen Bevölkerung geteilt wird“, erklärt Keith Allen von History Associates das verstärkte Forschungsaufkommen in diesem Gebiet. „Die Menschen haben das Gefühl, dass der Feind damals greifbarer war“. Der Historiker und Museumsexperte ist Kalter Krieg-Spezialist für die Firma, die unter anderen auch die US-Regierung in der Aufarbeitung historischer Relikte berät.

Nicht alle Relikte des Kalten Krieges liegen so verwunschen im Abseits wie die Raketenstellung in den Everglade-Sümpfen. Das wohl mächtigste Monument der Jahre zwischen dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Auflösung der Sowjetunion ist so gewaltig, dass es sogar mit bloßem Auge von einem Raumschiff in Erdumlaufbahn aus gesehen werden kann: Das US-Interstate Highway System. Die Errichtung des landesumspannenden Straßennetzes, das heute Millionen von Amerikanern jeden Tag ohne einen einzigen Gedanken an Eisernen Vorhang oder nuklearen Overkill benutzen, machte US-Präsident Dwight D. Eisenhower dem Kongress im Februar 1955 mit dem Szenario schmackhaft: „Im Falle eines atomaren Angriffs auf unsere Städte muss das Wegesystem die schnelle Evakuierung der Zielgebiete ermöglichen, die Mobilmachung der Verteidigungsstreitkräfte und die Aufrechterhaltung jedweder essentiellen wirtschaftlichen Funktion.“ 1961 nutzte John F. Kennedy die Angst vor einem Nuklearschlag zur Rechtfertigung einer Erhöhung der Benzinsteuer. Die Einnahmen aus der Steuer, so der Präsident, seien notwendig, um mit der Fertigstellung des Interstate Highway Systems „einen notwendigen Beitrag zu unserer Sicherheit“ zu leisten.

Doch wie lassen sich die militärischen Entstehungsumstände dieser auch heute noch im zivilen Alltagsgebrauch integrierten Konstruktion herausarbeiten? Jacqueline Taylor, Architektur- und Landschaftshistorikerin von der Beraterfirma für historisches Kulturerbe John Milner Associates hat sich mit diesem Problem beschäftigt. „Die materielle Dokumentation dieses Monumentes kann auch die vielschichtigen technologischen, materiellen, sozialen, intellektuellen und politischen Einflüsse aufzeigen, die sein Design bestimmt haben“, erklärt sie ihre Arbeit. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass diese historische Bedeutung als fester Bestandteil der materiellen Quelle verankert bleibt? „Der Schlüssel liegt in der Aufdeckung dieser Bedeutungen, um eine bessere Basis für das Verständnis künftiger Generationen schaffen zu können. Die Forschung – Dokumentation und Interpretation – enthüllt dann nicht nur die materielle Komplexität von Stätten des Kalten Krieges, sondern auch ihre unterschwellige soziopolitische Bedeutung“, sagt Taylor. Offen bleibt die Frage, wie sich diese Ergebnisse in einem Museum präsentieren lassen. Sicher, das US Interstate Highway System ist weder so überschaubar wie eine Raketenstellung noch hat es den Gruselfaktor einer Nike-Herkules mit Nuklearsprengkopf. Aber für die Bewahrung von historischen Monumenten dürfen eben niemals ihre Eignung zur Lagerung oder gar ein rein subjektiver ästhetischer Wert zu entscheidenden Kriterien gemacht werden.

Archäologisch gäbe es bezüglich der Planung des Straßensystems unter den amerikanischen Highways viel zu erkunden. Ganze Stadtteile und hektarweise Farmland fielen den Bulldozern zum Opfer. Allein der verwendete Asphalt, der heute die einstigen Besiedlungen und Äcker bedeckt, würde ausreichen, um sechs Fußgängerwege zum Mond zu pflastern. Doch da die Straßen auf kommende Dekaden auch weiterhin in Gebrauch sein werden, bleibt diese Arbeit den Archäologen der Zukunft überlassen. Mittlerweile kann nur dokumentiert werden, was auch ohne Spatenstich zu sehen ist. Für seine militärische Funktion waren die Anforderungen an das US-Highway System ein Minimum von zwei je vier Meter breiten Spuren pro Richtung, Stand- und Ausweichstreifen, begrenzte Zugänge, Steigungen unter sechs Prozent und Brücken und Durchfahrten mit einer Mindesthöhe von fünf Metern der Standard für seinen gesamten Umfang. Die Durchführung dieses Bauprojektes ist bis heute das größte Regierungs-Bauvorhaben, das je ein Land dieser Welt in Auftrag gegeben hat.

Die Öffentlichkeit hat natürlich ein reges Interesse an der und ein politisches Recht auf die Zugänglichkeit gerade militärischer Hinterlassenschaften vergangener Kriege. Manchmal liegt es jedoch in der Natur der Sache, dass von einem Krieg nicht viel übrig bleibt. An dem Ort, wo das Ende des zweiten Weltkrieges eingeläutet wurde und der Kalte Krieg begann, ist gar nichts mehr zu sehen. Auch nichts zu riechen, zu schmecken oder sonstwie zu spüren, nur messen kann man hier die Spuren des Kalten Krieges – in Milliröntgen. Maximal einem davon setzt sich der Besucher der Trinity Site in der Wüste von New Mexiko aus, wo am 16. Juli 1945 um 05:29:45 die erste Atombombe der Welt gezündet wurde. Das ist nicht viel, schließlich bekommt der Körper auf einem Flug von New York nach Los Angeles etwa die fünffache Strahlendosis ab. Trotzdem haben Touristen nur zweimal im Jahr, am ersten Samstag im April und im Oktober, die Gelegenheit, das Epizentrum des Kalten Krieges zu betreten. Bereits seit 1975 ist die Trinity Site als „National Historic Landmark“ registriert und gehört damit zu den frühen Versuchen, erinnerungswerte Stätten des Kalten Krieges zu schützen – auch wenn sie weit abseits der Touristenpfade liegen.

Das US-Militär setzte die Einöde New Mexikos so ziemlich allem aus, was es an neuen Waffen zu testen gab, denn dazu brauchte es vor allem Platz. Mit knapp 65 Kilometern in Ost-West-Richtung und fast 160 Kilometern von Nord nach Süd ist die White Sands Missile Range, kurz WSMR, sprich: „Whiz-Mer“ genannt, die flächengrößte Militäreinrichtung der Vereinigten Staaten. Archäologen finden hier allerdings nur noch ein paar verlassene Blockhäuser und eine handvoll aufgegebene Gold- und Silberminen. Sie zeugen davon, dass in dieser Wüste aus weißem Sand überhaupt Menschen wohnten, bevor die Regierung hier Raketen zu testen begann, die sowohl Sprengköpfe zum Feind als auch Menschen zum Mond bringen konnten. Ein kleines Museum auf dem immer noch militärisch genutzten Gelände in der WSMR ist dem Erinnern gewidmet. Entsprechend militärisch ist auch sein Fokus: Hier werden keine Fragen gestellt, hier erfährt der Besucher nichts über politische oder gar soziale Hintergründe des Kalten Krieges. Dafür kann er hier in einer Art „Streichelzoo des Schreckens“ eine Replik der „Fat Man“-Bombe, die Nagasaki zerstörte, oder sogar eine Patriot-Rakete aus dem ersten Golfkrieg aus nächster Nähe bestaunen. Für Schulklassen mag dies der ansprechendere Ansatz für ein Museum sein. Und vielleicht sollten wir sogar froh sein, dass gerade das US-Militär Abstand von einer intellektuellen Kommentierung des Kalten Krieges nimmt.

Jeder Tourist, jeder Historiker und jeder Archäologe, der in New Mexiko nach den Spuren des Kalten Krieges sucht, lenkt seine Schritte früher oder später nach Los Alamos. Hier, versteckt in den südlichen Ausläufern der Rocky Mountains, lag seit der Entwicklung der Atombombe das in letzter Zeit durch Datenschwund in Schwierigkeiten geratene Zentrum amerikanischer A-, B- und C-Waffenforschung, das Los Alamos National Laboratory. Es ist direkt dem US Department of Energy unterstellt. Die Dokumentation der Entwicklung jener Waffen, mit denen der Kalte Krieg gefochten wurde, hat an diesem historisch bedeutsamen Ort entsprechend auch das LANL selbst übernommen. Schon seit 1963 soll der Besucher im Bradbury Science Museum eintrittsfrei lernen, wie im abgeschotteten Los Alamos einst die Atombomben entstanden, die Hiroshima und Nagasaki dem Erdboden gleich machten – aber auch welch einen Segen die Forschung des LANL für die Medizin und die Umwelt bedeuten. Anders als für das Museum auf der WSMR steht für das Bradbury Science Museum die Interpretation des Konfliktes erschreckend klar im Vordergrund. Es will laut seines Mission-Statements „die Forschung, Aktivitäten und Geschichte des Labors für den Besucher, die generelle Öffentlichkeit und die Angestellten des Labors interpretieren“, das „Verständnis für die Rolle des Labors im Rahmen der Nationalen Sicherheit vorantreiben“ und schließlich sogar „der steuerzahlenden Bevölkerung dabei helfen, informierte Urteile über diese Angelegenheiten zu fällen“. Für die Erfüllung dieser Aufgaben wäre fast jede andere Instanz wünschenswerter als ausgerechnet das US Department of Energy. Frei nach dem Motto „Geschichte wird von den Siegern geschrieben“ gleicht der Gang durch das Museum denn auch mehr einer Werbeveranstaltung für Atomenergie – fehlt gerade noch, dass der Besucher zum Dank für seine Anwesenheit eine nukleare Heizdecke geschenkt bekommt.

Diese Herangehensweise verfolgen leider viele Museen, deren Konzept aus der Zeit stammt, als der Kalte Krieg noch heiß war. „Für eine historisch korrekte Darstellung müssen aber auch die Verlierer mit einbezogen werden“, fordert Keith Allen. So macht es zum Beispiel das Atomic Testing Museum in Las Vegas. Den ungewöhnlichen Standort im Neonlicht der Casinos hat das Projekt nicht etwa wegen des hohen Touristenaufkommens in der Stadt gewählt, sondern auf Grund seiner Affiliation zur Nevada Test Site in der Wüste, die Präsident Harry S Truman 1950 zum innerstaatlichen Atomwaffentestgelände erklärte. In den elf Jahren zwischen 1951 und 1962 führte die Regierung der Vereinigten Staaten hier draußen im menschenleeren Niemandsland 126 Nuklearwaffentests durch. Zwar werden in der heimischen Wüste heute keine Bomben mehr gezündet, aber der Zugang ist immer noch streng reglementiert. Wer die Kreativwerkstatt des Schreckens besuchen will, muss sich einige Wochen vorher anmelden, Namen, Geburtsdatum und -ort sowie Sozialversicherungsnummer angeben, und darf dann an einem der viermal jährlich angebotenen Termine mit dem Bus vom Department of Energy Nevada Operations Office in Las Vegas zur abgesperrten Nevada Test Site fahren. Den Mutigen erwartet eine gruselige Kulisse: „Doom Town“, ein realistisch nachgebautes Dorf, an dessen Gebäuden die Auswirkungen der Explosionen auf urbane Architektur beobachtet werden konnten. Zu Betriebszeiten war Doom Town auch bewohnt: Zahlreiche Tiere fanden hier ihren Feuer-, Erstickungs- oder Strahlentod – alles im Dienste der Wissenschaft.

Hier stoßen wir zum ersten mal auf die Erinnerung an einen Aspekt des Kalten Krieges, der sonst zwischen Raketen und ihren Stellungen seltsam stumm im Dunkel der Geschichte bleibt: den Menschen. Menschen waren Täter in diesem Konflikt. An der Spitze der Hierarchie gaben sie Befehle, erließen sie Gesetze, erfanden sie eine immer ausgeklügeltere Kriegsmaschinerie. An der Basis führten sie die Befehle aus, bauten Bomben und hielten diese in ständiger Alarmbereitschaft, um die andere Hälfte des Erdballs in ein nukleares Inferno verwandeln zu können. Aber Menschen waren auch Opfer im Kalten Krieg. Sie wurden bei Atomwaffenversuchen verstrahlt, sie mussten jahrelang auf Kosten ihres Privatlebens den Inhalt ihrer Arbeit streng geheim halten. Das Atomic Testing Museum hat es sich zum Ziel gesetzt, Licht in das Dunkel der ehemaligen Geheimklassifizierung der Nevada Test Site und anderer Atomwaffenversuche zu bringen. Hier ruhen zwei bedeutende Sammlungen ehemals unzugänglicher Dokumente; das Cultural Resources Repository und das Nuclear Testing Archive, in dem 370000 deklassifizierte Dokumente sowie über eine Million Strahlenbelastungswerte ehemaliger Mitarbeiter der Projekte zur Auswertung bereit liegen. Viele Angestellt wissen bis heute nicht, welcher Strahlenbelastung ihr Körper während der Arbeit auf der Nevada Test Site ausgesetzt war und können hier zum ersten mal Einsicht in ihre Unterlagen nehmen – können endlich Vergangenheitsbewältigung betreiben. Das Cultural Resources Repository beinhaltet über eine halbe Million Artefakte vom Testgelände, angefangen von Keramikscherben und Pfeilspitzen der prähistorischen indianischen Besiedlung bis hin zu den Brandeisen mit den Buchstaben „AEC“ (Atomic Energy Commission), die das Vieh kennzeichneten, das mit auf der Test Site gezüchtetem Weizen gefüttert wurde, um die Auswirkungen von Strahleneinwirkung in der Nahrungskette zu untersuchen. Obwohl schon in Betrieb, ist das Museum noch in der Aufbauphase. Die Fertigstellung der endgültigen Ausstellung ist für Ende diesen Jahres anvisiert.

Es gibt jedoch auch Stätten des Kalten Krieges, für die kaum Geld fließt und die nur durch den Enthusiasmus von Freiwilligen für die Öffentlichkeit bewahrt und zugänglich gemacht werden können. Paradebeispiel ist hier die Nike-Raketenstellung SF88 in den Bergen westlich der Golden Gate Bridge bei San Francisco. Sie ist ein typisches Beispiel für die über 300 baugleichen Stellungen, die im Kalten Krieg Großstädte und militärische Einrichtungen beschützen sollten – allein um die Bucht von San Francisco drängten sich in den 1950er Jahren elf davon. Damit ist sie für Archäologen und Historiker ein äußerst relevantes Monument: Bewahrt man eine, hat man das Wissen um alle anderen mit konserviert – und Stellungen wie die in den Everglade Sümpfen könnten dann getrost dem Dschungel überlassen werden. Was hier an jedem ersten Sonntag des Monats für drei Stunden zu besichtigen ist, war streng geheimer Alltag der Kriegsjahre. SF88 entstand 1954/55 und hielt zwanzig Nike-Ajax Raketen für den Ernstfall bereit. 1959 wurden sie durch Nike-Herkules Raketen ersetzt, die nicht nur schneller, höher und weiter fliegen sondern auch mit einem Nuklearsprengkopf bestückt werden konnten. Erst das Aufkommen der neuen Interkontinentalraketen (ICBM) des Pershing-Typs im Laufe der 1960er Jahre, die eine Nike nicht mehr „erwischen“ konnte, machte die Stellungen obsolet. Im Frühjahr 1974 traf es SF88, der Army Air Defense Command befahl die Schließung.

In diesem Zustand von 1974 präsentiert sich die Stellung heute dem Besucher, komplett mit drei Nike-Herkules-Raketen in ihrer unterirdischen Warteposition, und ist damit als einzige im Originalzustand erhaltene Nike-Raketenstellung der Vereinigten Staaten ein bedeutsames historisches Monument. Die Frage ist, wie lange noch? Bereits heute sind Teile der Anlage, die dem National Park Service unterstellt ist, nur noch schwer zugänglich. Die Straße dorthin sackte bei einem Erdbeben von 1989 um etwa 12 Meter ab und wurde bislang nicht repariert. Veteranen, die in dieser Stellung gedient haben, betreuen die – wenn auch spärlichen – Öffnungszeiten. Hier in der SF88 hat der Begriff „Homeland Security“ schon seit Jahrzehnten besondere Bedeutung. „Es wirkt wahrscheinlich beruhigend, zu glauben, dass wir – als eine Nation – erfolgreich gefahrenvolle Zeiten gemeistert haben, indem wir uns zusammengerissen und persönliche Opfer gebracht haben“, kommentiert Keith Allen die Einsatzbereitschaft der ehemaligen Soldaten. „In diesem Sinne ist die Bewahrung einer Nike-Stellung vor den Toren einer Großstadt so ansprechend für die Veteranen des Kalten Krieges – von denen viele fest daran glauben, dass sie in einem „echten“ Krieg gedient haben – und auch für diejenigen Menschen, die Weltpolitik nicht verfolgen und demzufolge nicht verstehen, warum die Terroristen es auf die USA abgesehen haben.“ Damit schneidet Allen eine zentrale Frage an: Brauchen wir für die weltumspannenden Konflikte, mit denen wir es seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zu tun haben, eine neue Definition von Krieg? Früher war die Kriegsführung ein einfach zu verstehendes Prinzip. Es gab einen Feind, der durch Anwendung einer Waffe vernichtet werden konnte. War einmal alles vorbei, dann ließ sich der Konflikt in Zahlen fassen, zum Beispiel in Quadratkilometer für eroberte Gebiete und Stückzahlen für tote Menschen. Doch mit dem Kalten Krieg, und noch viel mehr mit dem Krieg gegen den Terrorismus, haben sich diese Mechanismen geändert. Ein neues Kriegsziel ist die Erzeugung permanenter Angst. Lässt sich die in Zahlen fassen? Von Archäologen ausgraben? In einem Museum präsentieren?

Eine Möglichkeit liegt in der Ausweitung des Repertoires der zu bewahrenden Monumente über die Verteidigungseinrichtungen hinaus zu den Schutzmaßnahmen – die immerhin als Reaktion auf die Angst errichtet wurden. Ein museales Highlight ist in diesem Bereich der Bunker, der im Ernstfall die US-Kongressmitglieder aufgenommen hätte. Etwa 400 Kilometer südwestlich von Washington DC, in White Sulphur Springs, West Virginia, liegt tief unter dem Nobelhotel „Greenbrier Resort“ die Anlage, die noch über das Ende des Kalten Krieges hinaus, bis zur Enthüllung ihrer Existenz durch die Washington Post im Mai 1992 in ständiger Erwartung des Ernstfalls bereit stand. Als der Kongress einen passenden Ort für diese hochsensible Fluchtburg suchte, ergab es sich, dass das Greenbrier Resort gerade einen neuen Flügel für sein Hotel bauen wollte. Der Platz war ideal: in der edlen Umgebung des gepflegten Nobelhotels, weit ab der Hauptstadt, fern von jedwedem strategischen Ziel, und doch binnen weniger Stunden für alle Kongressmitglieder von Washington aus erreichbar. So wurde der Bau des Bunkers mit dem Bau der Hotelerweiterung getarnt – die großen Mengen an Beton, die in dem Erdloch verschwanden, erklärten Sprecher des Hotels mit der Einrichtung eines Privatbunkers für die Gäste. Nach der Fertigstellung 1962 bot der Greenbrier Bunker den Kongressmitgliedern alles, was sie zum Überleben brauchten: ausreichend Platz auch für ihre Mitarbeiter und die engsten Familienmitglieder (nach Plan pro Kongressmitglied ein Ehepartner und 1,5 Kinder), eine Klinik mit OP-Saal, ein eigenes Kraftwerk, ein Fernseh- und Rundfunkstudio – und ein Krematorium. Die Perversion dieser Anlage wird besonders deutlich im Speisesaal des Bunkers: Für die Sehnsucht nach Luft und Licht schmückten die Wände hölzerne Fensterrahmen, hinter denen gemalte Landschaftsszenen die Illusion einer heilen Welt aufrecht erhalten sollten. Eine Welt, die der Kongress auch nach dem Atomarschlag noch über Funk und Fernsehen regieren wollte. Wahrscheinlich dann aber eine Welt aus rauchenden Trümmern, deren einstige Bewohner lediglich als Schatten an den wenigen noch stehenden Häuserwänden erhalten geblieben wären. So wie hier in Greenbrier lässt sich Absurdität in Bilder fassen. Mit der Enthüllung seiner Existenz kam das Aus für den Bunker. Das Greenbrier Resort bemühte sich jedoch um eine Wiederausstattung der Einrichtung mit Orinigalmobiliar und veranstaltet nun als privates Unternehmen exklusive Führungen zum saftigen Preis von 25 US-Dollar pro Person.

Um die Menschen geht es auch im Cold War Museum, das nach langen Jahren als Wanderausstellung – unter anderem auch am Alliierten Museum in Berlin – nun seine physische Heimat in der ehemaligen Lorton Nike Missile Base in Fairfax, Virginia, finden soll. Ins Leben gerufen wurde die Initiative von Francis Gary Powers, Jr., Sohn des im Mai 1960 in seiner U-2 über der Sowjetunion abgeschossenen Piloten gleichen Namens. „Viel zu oft geht es in den bestehenden Museen um Waffen, Politik und kulturelle Ikonen statt um die Menschen in Uniform, die diesen Krieg geführt haben“, erklärt Gary Powers sein Anliegen. Zu den Ausstellungsstücken zählen denn auch Alltagsgegenstände des Kalten Krieges wie „Fall-out resistente“ Wasserrationen in Dosen aus Nuklearschlag-Überlebenspaketen oder russische Schachtelpuppen mit den aufgemalten Gesichtern sowjetischer Politiker. Fast beklemmend persönlich ist der Koffer, den Powers Vater bei seinem Gefangenenaustausch gegen den russischen Spion Rudolf Abel am 10. Februar 1962 auf der Glienicker Brücke in Potsdam bei sich trug. Weiter weg von den Waffen und näher hin zu einem Menschen kann ein Museumsstück kaum sein. Gary Powers stellt nicht nur seine Sammlung von Memorabilia zur Verfügung, sondern koordiniert auch Vorträge und Veranstaltungen zum Kalten Krieg. Die Diskussion ist für ihn ein fundamentaler Beitrag zum Erinnern: „Wir müssen uns klar darüber sein, dass es immer multiple Versionen davon geben wird, wie Ereignisse und Abläufe geschehen sind“, mahnt er. „Vor allem ist es für uns wichtig, sicherzustellen, dass Ausstellungen und Museen zum Kalten Krieg sich an historische Fakten halten.“

Ein frommer Wunsch. Nun liegt es also in unseren Händen, den Kalten Krieg für das kulturelle Erinnern aufzuarbeiten und ihm eine historische Form zu geben. Noch sind nicht alle Raketenstellungen abgerissen, nicht alle Artefakte vernichtet, noch wissen wir, wo Archäologen nach verschütteten Hinterlassenschaften graben können, noch haben wir Augenzeugen und Veteranen, die es vor ihrem Ableben zu befragen gilt. Die Museen der Zukunft müssen es sich zur Aufgabe setzen, diese materiellen und historischen Quellen adäquat zu präsentieren. Die Arbeit daran hat gerade erst begonnen. Ende vergangenen Jahres organisierte Keith Allen im Auftrag des teils vom amerikanischen Kongress unterhaltenen demokratischen Think-Tanks Woodrow Wilson International Center eine Konferenz, auf der Museumsdirektoren und Kuratoren, Historiker, Denkmalschützer, Veteranenvertreter, Regierungsabgeordnete, Medienvertreter und Gesandte politischer Stiftungen aus dem In- und Ausland über die museale Zukunft des Kalten Krieges diskutierten. Anlaß war die vom Kongress geplante Aufforderung an den National Park Service, „eine Studie zur Identifizierung von Stätten und Materialien durchzuführen, und Alternativen zur Erinnerung an den Kalten Krieg sowie seine Interpretation vorzuschlagen.“ In wessen Interesse sind solche Überlegungen? Als Co-Sponsoren fanden sich nicht nur das Cold War Museum und politische Einrichtungen und Stiftungen unterschiedlicher Couleur wie die Eisenhower Foundation und Eisenhower Presidential Library (republikanisch), die Harry S. Truman Presidential Library (demokratisch) und die John D. and Catherine T. MacArthur Foundation (privat und unabhängig) zusammen. Auch das German Historical Institute bekundete als mitfinanzierendes Organ seine Sorge um die historische Definition des Kalten Krieges. Doch nicht zuletzt war auch die Rüstungsindustrie nicht weit: Die Boeing Company ergänzte den Reigen der Geldgeber. Die Konferenz, auf der es in erster Linie darum ging, den derzeitigen musealen Bestand zu sichten und Vorstellungen über künftige Museumsprojekte auszutauschen, war ein erfolgreicher erster Schritt hin zu einer gemeinsamen internationalen Bewältigung unserer jüngsten Vergangenheit. „In meiner Vorstellung ist die ideale Erinnerungsstätte an den Kalten Krieg eine Art Wissenschaftszentrum“, wünscht sich Keith Allen. „Wie ein internationaler Hafen – nur zum freien Austausch von gut informierten Ideen statt von Waren.“ Die Verantwortung, die wir um die Museumifizierung des Kalten Krieges tragen, ist groß. Damit die Geschichtsschreibung der Zukunft nicht so aussieht, wie Science Fiction-Autor William Gibson sie in seinem jüngsten Werk „Pattern Recognition“ beschreibt: „History is a best-guess narrative about what happened and when.”

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