Endzeittourismus

Jetzt weiß ich, warum Berg-Karabagh Berg-Karabagh heißt. Es heißt so wegen der Berge. Nicht Hügel, nicht sanft, nicht Alpen und nicht Rocky Mountains, nein. Bilderbuchberge, Märchenberge in grün-grau Pastell. So hoch, daß das gesamte Land in den Wolken verschwindet, sozusagen eingewolkt ist in feuchte, kalte Nebelschwaden. Nicht ein Flecken, der auch nur annähernd als waagerecht zu bezeichnen wäre, alles schief, alles schräg, jedes gebaute Haus scheint sich nur mit Mühe gerade noch an den Abhang zu klammern ohne den Halt zu verlieren und hinunterzurutschen. Jedenfalls so viel ich davon sehen konnte, denn das Wetter war ein Musterbeispiel dessen, was der Wetterbericht als „Nebel mit Sichtweiten unter 50 Metern“ bezeichnet.

Eine Woche lang war ich verzweifelt durch Yerevan gelaufen, um eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Bei der ersten brach das Auto zusammen, bei der zweiten brach sich ein Kind ein Bein, die reisenden Priester aus dem Vatikan kniffen in letzter Minute die Schwänze ein und in der Familie von Annas Zahnarzt fand sich niemand, mit dem ich in einer mir geläufigen Sprache hätte kommunizieren können. Schließlich fand sich eine Notlösung – ein Reisebus voll mit Diaspora-Armeniern aus den USA. In der Not frißt der Teufel Fliegen oder reist sogar mit Diaspora-Armeniern nach Karabagh…

Es sind die einzigen Touristen, die überhaupt dorthin fahren. Und zwar nicht etwa, um sich schöne Berge anzuschauen, oder das Land ihrer Vorfahren oder welche romantischen oder sentimentalen Motive Touristen sonst in derart entlegene Ecken der Welt treiben, nein, sie fahren dorthin, um sich Straßen und Kirchen anzuschauen. Straßen und Kirchen, die mit ihrem Geld gebaut wurden. Um sich selbst zu feiern.

Ein kurzer Einschub zur Lage in Karabagh. Seit 1994 herrscht offizieller Waffenstillstand zwischen Armenien und Azerbaijan, der nur noch durch gelegentliche Grenzscharmützel unterbrochen wird. Das armenische Militär hat sämtliche Azeris aus dem Gebiet vertrieben und den Staat Berg-Karabagh ausgerufen, der jedoch von keiner anderen Regierung als der armenischen anerkannt ist. Nicht nur die Azeris haben Karabagh verlassen, auch die Armenier ergriffen während des Krieges die Flucht, so daß das Land leer und verlassen ist. Außer einer krankhaften Liebe zu Bergen gibt es keinen Grund, in einem zerbombten, wirtschaftlich desolaten, vom Rest der Welt abgeschnittenen Karabagh wohnen zu wollen. Nur die Diaspora-Armenier in ihrem kindlich-naiven Patriotismus nahmen sich – aus sicherer Entfernung – diesem Flecken Erde an. Hegten und nährten ihr Baby. Nur weiß jede Mutter, daß ein Neugeborenes Muttermilch braucht und an blutigem Steak mit Himbeereis eher würgen würde. Nicht so die Diaspora-Armenier. Unsummen von Geld flossen von Californischen Privatkonten in den Bau von Straßen und Kirchen nach Karabagh. Nun kann man da zwar prima Auto fahren und beten, so man denn ein Auto (bzw. einen Reisebus) hat und gläubig ist, nur leben kann man dort immernoch nicht.

Auf dem Weg über die schön ausgebauten Straßen verfiel die Reisegruppe in seeliges Singen von patriotischen Liedern über Karabagh. Nun gut, „wo man singt, da laß Dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder“, dachte ich bei mir und hörte lächelnd zu. Wir stiegen in einem der beiden Luxushotels in der Hauptstadt Stepanakert ab. Die enthusiastisch glühenden Gesichter der Diaspora-Armenier wurden lang und länger. Mit Hotelangestellten, die Waffen im Gürtel trugen, konnten sie ja vielleicht noch leben, aber eine schiefe Klobrille? Unverputzte Wasserleitungen? 3. Stock ohne Fahrstuhl, nur erreichbar über Treppen aus blanken Beton? Ihr Weltbild geriet ins Wanken. Ich grinste seelig, schloß mich in mein Zimmer ein und aus von der Gruppe und genoß den Luxus eines wahren Luxushotels, eine lange Dusche mit kochend heißem Wasser.

Der Höhepunkt des nächsten Tages war die Besichtigung der Kirche von Gandzasar. Nicht neu, sondern uralt, war sie im Krieg wie durch ein Wunder von allen Angriffen verschont geblieben. Die Granaten, so sagt man, haben wie durch Zauberhand geleitet stets kurz über der Kirche abgedreht, der einzige Treffer steckt noch unexplodiert zwei Meter tief in der dicken Mauer. Der Priester dort ist ein gefeierter Kriegsheld. Das Kreuz in der einen, das Gewehr in der anderen Hand hat er in den Tagen der Kämpfe seine Kirche tapfer verteidigt. Während ich mich durch Schlamm und Gestrüpp zum Friedhof durchschlug und mit dem Anblick von wunderschönen alten Grabsteinen und einer spektakulärem Sicht auf die umliegenden Berge, die ausnahmsweise mal nicht mitten in, sondern in einer freien Zone zwischen zwei Wolkenschichten lagen, belohnt wurde, stürmte die Gruppe den windschiefen Stand mit Süßigkeiten und stand Smarties wiederkäuend wie eine Herde Kühe verloren im Nieselregen. Selbst die Wunder dieses Ortes konnten sie nicht über die schlaflose Nacht in harten Betten hinwegtrösten.

Nächster Stop war Aghdam, eine Geisterstadt. Ja, Stadt. Nicht wie die kleinen Dörfer im Wilden Westen, bestehend aus einer Tankstelle und drei Blockhütten, sondern eine ganze Stadt, komplett mit Regierungsgebäuden, Kino, Fabriken, Plattenbauten. Nach heftigen Kämpfen keinem Volk, sondern der Natur zurückgegeben, die das Geschenk dankbar angenommen hat, und nun mit Wurzeln und Ästen sich wieder einzuverleiben versucht, was ihr einst genommen wurde. Man konnte die Käugeräusche der Bäume und Sträucher förmlich hören. Nicht besonders attraktiv für meine Diapora-Armenier, die Einschußlöcher in Häuserwänden für Nagespuren des Zahns der Zeit halten, aber ich wünschte mir sehnlich, aussteigen zu können und spazieren zu gehen, und schließlich kam meine Chance. „Granatäpfel, ein Baum mit Granatäpfeln!“, ging ein Schrei durch den Bus. „Lasset und aussteigen und Granatäpfel pflücken, die auf dem geliebten Boden Karabaghs gewachsen sind…“ Die Meute stürmte den Baum, ich stürmte mit der Kamera die leeren Häuser. Das Gejohle ob der unreifen Granatäpfel hatte das Interesse zweier Soldaten geweckt, die gemächlich hinübergeschlendert kamen. Die Diaspora-Armenier fühlten sich verpflichtet, mich als ihren Ehrengast vorzustellen, zerrten mich aus den Häusern zu den Soldaten und schrieen mit stolzgeschwellter Brust: „Sie ist Journalist, sie wird der Welt von Karabagh berichten!“ Ich hatte nie behauptet, derartiges vorzuhaben (schon allein deshalb, weil die Welt gar nichts von Karabagh wissen will), und als ich die Gesichter der beiden Soldaten sah, zischte ich nur zähneknirschend meinen überschwenglichen Begleitern zu „Shut the Fuck up!“ Ein lämmchengleiches Lächeln breitete sich über mein Gesicht, ich beteuerte augenaufschlagend, hier nur Urlaub machen zu wollen, und die menschliche Eitelkeit der beiden wurde stärker als jedes Befehlsgehorsam. Statt mir den Film aus der Kamera zu reißen warfen sie sich in Pose.

Den Rest gab mir jedoch der Besuch in der Teppichfabrik. Im tüben Licht staubiger Lampen kletterten wir zwischen den riesigen Webstühlen herum. „Oooooh, schaut nur, wie geschickt sie sind!“ quiekten die betagten Damen begeistert beim Anblick der Mädchen im Grundschulalter, deren Hände wieselflink die bunten Fäden knoteten, während ihr Blick starr auf die mit Buntstiften gemalte Mustervorlage geheftet war. Es war später Nachmittag, und ich will dem Fabrikbesitzer gar nicht bösartig unterstellen, daß die Kinder auch Vormittags arbeiten müssen, statt zur Schule zu gehen. Aber ich zog es doch vor, draußen im Regen zu warten, bis die Gruppe ihre Teppiche gekauft hatte. Jedes Ehepaar den gleichen kleinen, quadratischen Teppich mit den Gesichtern von Großmütterchen und Großväterchen Karabagh – nicht weil er hübsch, sondern weil billiger war als die großen, schönen Karabagh-Teppiche mit den strengen geometrischen Mustern. Ich brauchte eine Zigarette und die Abkühlung des Regens, um nicht loszuschreien.

Nach dem Abendessen schlich ich mich von dannen, um nicht bei der Abschiedsparty der Gruppe noch mehr sentimentale Ausbrüche des Entzückens über die Ursprünglichkeit dieses Landes ertragen zu müssen. Die Geschichte, wie wunderbar gesund und natürlich das Essen hier sei, hatte ich bereits fünfundzwanzig mal anhören müssen. Seltsamerweise hatten beim Essen dann doch alle einen paranoiden Zug um den Mund, vermieden das Wasser aus den Krügen und den frischen Schafskäse, und packten statt dessen verstohlen ihre versiegelten Flaschen mit Mineralwasser und den eingeschweißten Plastikkäse aus. Sie wissen nicht, was sie verpasst haben… Der Käse war köstlich.

Auf der Rückfahrt wurde jeder genötigt, über das Busmikrophon von seinen Eindrücken zu erzählen. Ziemlich gegen Ende kam Michelle an die Reihe, gerade sechzehn Jahre alt, niedlich, rundlich, püppchenhaft mit beeindruckend sorgfältig gepflegten langen Fingernägeln. Sie nahm das Mikrophon und begann zu weinen. „Diese Reise hat mich so bewegt“, schluchzte sie. „Ich möchte, sobald ich mit der High School fertig bin, hierher zurück kommen und beim Aufbau meines Landes helfen.“ Der ganze Bus weinte mit ihr. Auch mir liefen die Tränen übers Gesicht. Weniger wegen Michelles patriotischen Vorsätzen, sondern wegen ihrer rührenden kindlichen Naivität. In dem Moment beneidete ich sie darum. Grenzenlos.