Nach dem einstündigen Aufstieg in der brüllen Hitze der Mittagssonne konnte ich nicht mehr viel anderes wahrnehmen als die Watte in meinem Kopf, den metallenen Geschmack im Mund und das hohle Echo meines Herzschlags in den Ohren. Dann tauchte zuerst die spitze Nadel zwischen den Bäumen auf und wenige Schritte später trat ich hinaus in die gleißende Helligkeit einer weiten Fläche aus Beton.
Wie die armenischen Kirchen liegt auch das Genozid-Mahnmal abgelegen auf einer Hügelkuppe, damit der Pilgerer beim Aufstieg den Alltag hinter sich läßt und den Geist frei macht für die Eindrücke, die ihn dort oben erwarten. Die Leiden des Aufstiegs sollen ihn zugleich an die Leiden des armenischen Volkes erinnern. Weit ab aller Bequemlichkeit von Rollstuhlrampen oder behindertenfreundlichen Auffahrten ist dieses Mahnmal ein Ort, der nicht augenwischend leidende Menschen noch leidender macht. Wer nicht mehr gehen kann, muß sich nicht auch noch dem Leid hier oben aussetzen.
Die spitze Nadel und ein Kreis aus sieben Betonblöcken – einer für jede Provinz, die ausgelöscht wurde -, zwischen denen die ewige Flamme brennt. Das ist alles. Diese puristische Schlichtheit macht das Mahnmal aus, das an 1, 5 Millionen Menschen erinnert, die auf den Trecks in die Wüste verhungerten, verdursteten, erschossen wurden oder einfach nur entkräftet am Rand der Staubpiste liegen blieben. 1, 5 Millionen unbeerdigte Armenier.
Ich muß unwillkürlich an Yad Vashem denken. Die Holocaust-Gedenkstätte der Israelis erscheint hier oben wie ein Vergnügungspark. Während in Yad Vashem in den einzelnen Attraktionen des psychologisch ausgeklügelten Gruselkabinetts – die zudem noch über Rollstuhlrampen für die überfütterten amerikanischen Brüder und Schwestern bequem zu erreichen sind – laut geschrieen wird, wird hier geschwiegen. Armenisches Understatement par excellence.
Dankbar sinke ich auf die schattigen Stufen zwischen den Betonblöcken und bleibe erstmal minutenlang regungslos sitzen. Bilder ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Bilder aus der Wüste. Bilder der endlosen Schlangen von Menschen, die auf dem Weg in die Wüste schon lange aufgehört haben, Menschen zu sein. Es ist ganz still. Es ist so still, daß ich nur das Knistern der Flamme und meinen eigenen Atem höre, der vom Beton zurückgeworfen wird. Keine Schreie, kein Klagen, nur Stille. Und dann beginnt etwas seltsames. Ich spüre eine unendliche Freude in mir aufsteigen. Ich spüre eine alles überwältigende Freude, am Leben zu sein. Mein Leben zu leben, ein gutes Leben zu leben. Was mich bedrückte, lies ich bereits auf dem Weg hier herauf zurück. Und diese Leere wird nun gänzlich gefüllt von der Erkenntnis, wie schön und wertvoll das Leben ist.
Ich war dort hinaufgestiegen, um mich vorzubereiten. Auf ein Treffen, dem ich ehrfürchtig entgegengefiebert hatte. Anna hat es tatsächlich geschafft, Überlebende des Musa Dagh aufzutreiben. Ihr Friseur, der eigentlich Wirtschaftsproffessor ist, hat eine Großmutter, oder wie auch immer die armenischen Verwandschfts- und Freundschftsbeziehungen lauten, jedenfalls waren wir eingeladen, uns die Geschichten der großen Helden anzuhören.
Hausen Helden in Plattenbauten? Es roch nach Kohl und Kabelbrand. Im Wohnzimmer auf dem Sofa drängten sich besagte Großmutter, die sich gerade von einem Schlaganfall erholte, und deren Seele fröhlich irgendwo zwischen der Vergangenheit und einer eigenen Phantasiewelt spazierte, ein blinder Sänger, dessen Vater auf dem Musa Dagh gekämpft hatte, und Ignatius, ein berühmter Schriftsteller, der zu den Kindern gehörte, die während der Belagerung auf dem Berg geboren waren. Ich erinnerte mich an Franz Werfels Schilderung des ersten der Kinder, die dort oben in die Welt drängten, daran, wie der kleine Säugling so schwach war, daß er einfach nicht schreien wollte, und als ich Ignatius sah, beschlich mich der Gedanke, daß er diese Schwäche nie überkommen hat. Das winzige, klapperdürre, kettenrauchende Männchen reichte mir gerade bis zum Ellenbogen.
Großmütterchen begann mit ihrer Geschichte. „Ich ritt auf einem Esel, ja, auf einem Esel. Und dann kam ich zu einer Cousine, und die gab mich an einen Onkel, und dann, ja dann suchten sie einen Mann für mich, ich war schon 16…“, glitten ihre Worte durch die staubigen Jahre ihrer Kindheit. Wir lächelten freundlich. „Und wie war das mit dem Musa Dagh?“ Der blinde Sänger übernahm die Führung. „Oh ja, nach dem Krieg habe auch ich endlich geheiratet, ja, sie war ein hübsches Mädchen. Wir hatten erste eine Tochter, die nannte ich Freiheit, aber sie starb. Dann hatten wir einen Sohn, den nannte ich Rache, aber auch der starb. Aber ich hatte auch eine Cousine, und einen Cousin, und dessen Großtante…“ Lächeln, immer nett lächeln… „Ja, nach dem Krieg war das Leben bestimmt nicht einfach, aber wie war das mit dem Musa Dagh?“ „Mein Vater hatte einen Traum, immer wieder diesen Traum, er hatte ein Gewehr. Und weil er immer wieder träumte, flohen wir nach Beirut, dann nach Griechenland, dann nach Odessa, ja, Odessa, und dann kamen wir nach Yerevan…“ Lächeln… „Das ist ja eine beeindruckende Odysee, aber wie war das mit dem Musa Dagh?“ Mittlerweile versuchte Großmütterchen, das fünfte Stück Kuchen auf meinen Teller zu stapeln. Ich wollte abwinken, weil der Kuchenturm inzwischen gefährlich zu schwanken begann, hatte aber keine Chance, ihr Geduldsspiel zu unterbrechen. Der blinde Sänger und Ignatius begannen, sich heftig zu streiten, ob Onkel xy 1924 oder 1926 aus dem Waisenhaus entlassen wurde. Dem Musa Dagh waren wir keinen Meter näher gekommen.
Schließlich ergriff Ignatius die Initiative. „Weiß Deine Freundin, wer Franz Werfel ist?“, fragte er grimmig. Wir nickten artig. „Alles, was Franz Werfel schreibt, ist falsch. Es war ganz anders. Es war so…“ Er setzte an und erzählte mit Franz Werfels Worten Franz Werfels Geschichte. Wir waren verwirrt. Ignatius aber hatte Spaß an seinem Quiz gefunden. „Weiß sie, wer Franz Werfel aus dem Konzentrationslager befreit hat? – Es war Eleonore Roosevelt!“ Hä? Irgendwo auf den Hängen des Musa Dagh hatte ich Ignatius Gedankengang hoffnungslos verloren. „Weiß sie, wieviele Türken in Deutschland leben? Weiß sie, daß die Türken gerade jetzt in dieser Minute planen, Deutschland zu erobern?“ Moment mal… Aber Ignatius hatte sich in Fahrt geredet. „Deine Freundin ist keine Journalistin, wenn sie das nicht weiß und noch nie darüber geschrieben hat! Sie ist dumm, eine ganz dumme Person! Darüber muß sie schreiben!“ Er drohte Anna, seine Worte ja ganz gewissenhaft und genau zu übersetzen. „Letztes Jahr war ein Fernsehteam hier, und die haben einen Film über den Musa Dagh gedreht, um die Deutschen zu lehren, wie gefährlich die Türken sind. Das waren gute Menschen! Das waren gute Journalisten. Deine Freundin weiß gar nichts über ihr eigenes Land und in welcher Gefahr es sich befindet! Sie ist dumm, dumm, dumm!“
Wir ergriffen die Flucht. Großmütterchen baumelte mit den nackten Füßen und zwitscherte fröhlich aus ihrer Ecke, wir sollten doch bitte noch bleiben. Der blinde Sänger tastete nach meiner Hand und tat, als wolle er sie nie mehr loslassen. „Ich habe einmal in Berlin gesungen…“, erinnerte er sich und seine trüben Augen bekamen einen feuchten Glanz. Ignatius lächelte inzwischen wieder. Aber vielleicht war er auch nur froh, einen weiteren Menschen vor den Türken gewarnt zu haben und uns dumme, ignorante Menschen jetzt endlich los zu sein. Sein Lächeln lies sich nicht lesen.
Das also waren die Helden des Musa Dagh. Vielleicht sollte ich meine romantische Vorstellung von Helden relativieren. Oder vielleicht gibt es keine Helden in dieser Welt, und sie ist ganz und gar nur mit Menschen bevölkert.