Brot und Bohnen

Danke für Eure Glückwünsche und für Eure Berichte von der Heimatfront. Ich bin hier darauf angewiesen, jeden Abend die russischen Nachrichten zu verfolgen und ab und an Spiegel online zu checken. Ohne diese zweite Informationsquelle säße ich wohl schon im Flieger zurück nach Deutschland, denn die russischen Nachrichten haben einen Hang zur Blutrünstigkeit, der mir allabendlich den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Seit Tagen habe ich kaum geschlafen, weil sich die Bilder von den Wassermassen immer wieder vor meine Augen drängen. Ich sehe die Fluten von Dresden, die eben noch über den Bildschirm flimmerten, und dann werden sie lebendig in meiner Phantasie, wälzen sich brüllend auf Hamburg zu und gleiten in Albträume ab. Das sind die Nächte. Nur die Tage lenken meine Gedanken auf andere Wege…

Ich habe ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk bekommen, einen Tag tief im Kaukasus. Kollegen von Annas Mutter nahmen mich mit zu alten Freunden in Talin, ein Dorf mitten in einer der kärgsten Regionen Armeniens. Die Menschen, die hier leben, stammen ursprünglich aus Sassun in Westarmenien, und haben seit den Tagen des Genozids mehr Umsiedlungen über sich ergehen lassen müssen als andere Leute sich neue Autos kauften. Diesen erbärmlichen Flecken Land haben sie sich nun ausgesucht, weil sie von hier sicherlich nie wieder jemand vertreiben wird. Diesteln, überall Diesteln, dazwischen nur ein paar Büschel gelbes, vertrocknetes Gras. Die Bewohner von Talin haben den Ruf von Halbwilden. Mit großen Kulleraugen versuchte Yanna auf dem Hinweg mich zu warnen, daß in dieser Gegend durchaus der Kanibalismus noch als fester Bestandteil des Alltags praktiziert wird.

Sind die Menschen dieser Region gerade einmal nicht auf Menschenjagd, erweisen sie sich jedoch als die besten Gastgeber der Welt. Wir hatten uns verfahren und fragten einen Bauern nach dem Weg. „Nein, zum Haus von Julvern geht es hier nicht entlang. Aber wenn ihr euch schon verfahren habt, warum bleibt ihr nicht gleich zum Essen hier und stärkt euch erstmal, bevor ihr weiterfahrt!?“ Wir ahnten jedoch bereits, daß wir mit der Kapazität unserer Mägen besser sparsam haushalten sollten. Nachdem wir uns durch zwei Kuh- und eine Schafherde gekämpft hatten, hielten wir vor dem letzten Haus des Dorfes. Hinaus purzelten drei sonnenverbrannte Kinder und von der anderen Richtung kam lachend eine ältere Frau im zerfetzten T-Shirt auf uns zugerannt. Großes Hallo, Umarmen, Küßchen, Lachen. Mit dem Schritt über die Türschwelle traten wir von der staubigen Dorfstraße in eine gänzlich andere Welt. Die Bücherregale reichten vom Boden bis zur Decke und das Klavier war zwar nicht mehr ganz neu, aber viel und gerne gespielt.

Die Familie hat schon vor langer Zeit ihre Anwaltsjobs aufgegeben, um hier draußen in Talin zu wohnen. Hier zwischen den Diesteln ist das Leben ehrlicher als irgendwo sonst auf der Welt. Der kleine Hof reicht zum Leben, gerade eben, aber hier draußen gibt es sowieso nichts, was man mit Geld kaufen könnte. Schwierig wird es, wenn die Kinder im Herbst in die Schule kommen und Bücher brauchen, aber irgendwie wird man auch das schaffen.

Wir schwärmten aus, um im Garten nach Eßbarem zu suchen und kamen mit Armen von Obst und Gemüse zurück. Der Yoghurt war selbstgemacht, das Brot am Morgen im Backhaus der Nachbarin frisch gebacken. Armenisches Brot… Heißt hier Lavash, ist hauchdünn und ein Fladen hat in etwa die Größe eines Tigerfells. Mann wickelt sein Essen darin ein und beißt von dem Päckchen dann ab, Lavash ist aber gleichzeitig auch als Serviette, als Handtuch oder als Bettlaken für Kleinkinder verwendbar. Wird es trocken, braucht man nur Wasser darübersprinkeln und es ist wieder wie frisch gebacken. Die Legende erzählt, daß Alexander der Große wegen des Lavash die Armenier auf seinem Zug gen Osten Armenier sein ließ. Er sah die Fladen über einer Burgmauer trocknen und fragte, was diese seltsamen Laken zu bedeuten hätten. Als sein Dolmetscher ihm die vielseitige Verwendbarkeit des Lavash erklärte, sagte Alexander: „Gegen ein Volk, das ein derartig wunderbares Nahrungsmittel erfunden hat, will ich keinen Krieg führen!“, setzte sich auf sein Pferd und zog weiter gen Indien. Nun ja, außer im Brotbacken sind die Armenier auch Weltmeister im Erfinden von Legenden. Jedenfalls wird Lavash in Löchern im Boden gebacken. Man klebt es mit Hilfe eines alten Bügelbrettes an die Mauern des Loches und reißt es dann nach wenigen Sekunden wieder heraus.

Nach dem Essen kletterten Anna und ich durch die Diesteln auf einen der umliegenden Hügel und schauten der Sonne beim Untergehen zu. Die Luft roch nach Steinen. Unten im Tal brüllte ein Kalb nach seiner Mutter. Ich verfolgte das Spiel der Wolkenflecken, die die schräge Abendsonne auf die Hänge der Hügel malte und spürte der Freude nach, mit der das Geschenk dieses Tages hier draußen mich füllte. So unendlich wertvoll.

Der Sonntag ist wohl überall auf der Welt der ideale Tag zum segeln. Segeln? In einem Land ohne Küsten, ohne nennenswerte Flüsse? Jawohl, Armenien hat immerhin den Sevan See. 1900 Meter über dem Meeresspiegel trohnt dieser Süßwassersee, der zu den höchstgelegenen der Welt zählt. Durch Misswirtschaft hat er seit den 50er Jahren zwar einiges an Volumen eingebüßt und steht kurz vorm kippen, aber die Armenier sind stolz auf ihn wie auf ihren Brandy und auf ihr Brot. Dort am Sevan See, an dessen Ufern einst die Seidenstraße entlangführte, zeigt das Land wieder ein ganz anderes Gesicht. Es können wohl nur die sturköpfigen Armenier fertig bringen, in einem Süßwassersee mitten in einem Land, in dem es noch nie nach Meer gerochen hat, das noch nie den Schrei einer Möve vernahm, ein Handelsschiff der kilikischen Flotte aus dem 13. Jahrhundert in mühevoller Kleinarbeit zu rekonstruieren. Planke für Planke, Nagel für Nagel, haben sie sich dieses Schiff vom Mund abgespart. Jetzt fehlt nur noch ein altes, ausgedientes Segel, das von der „Krusenstern“ gespendet und umgearbeitet wird, bevor die „Kilikia“ in See stechen kann. Das mit dem stechen wird allerdings schwierig, sie muß erstmal im Bauch eines Flugzeuges zum Schwarzen Meer gebracht werden, bevor sie ein richtiges Schiff sein darf. Wir begnügten uns mit einem kleineren Segelboot und umkreuzten die „Kilikia“ in ehrfurchtsvollem Abstand.

Doch wir waren nicht nur zum Segeln an den Sevan See gekommen. Dort lebt auch Roman, eine Art Patenkind der Familie, in einem Kinderdorf. Eines Tages kam eine befreundete Krankenschwester mit dem kleinen Bündel Elend, das Roman damals war, zu den Aghadjanians. Er hatte sich – junge Mütter unter Euch, lest an dieser Stelle nicht weiter, ich möchte nicht für Eure Albträume verantwortlich gemacht werden – eine Bohne in die Nase gesteckt. Diese fühlte sich in der feuchten Wärme seiner kleinen Nase äußerst wohl und hatte beschlossen, dort Wurzeln zu schlagen. Was im nachhinein betrachtet Romans Glück war. Denn ohne diese Bohne in seiner Nase wäre er nicht in das Krankenhaus gekommen, aus dem die Krankenschwester ihn zu den Aghadjanians brachte. Roman ist ein Waisenkind. Verloren gegangen zwischen den Fronten – Roman ist Azeri. Von seiner eigentlichen Nationalität weiß er nichts. Irgendwann wird ihm auffallen, daß seine Augen nicht groß und rund sondern schmal und mandelförmig sind. Daß sein Schädel nicht lang und zierlich sondern breit und dreieckig ist. Und dann wird ihm klar werden, daß seine Gene die eines Volkes sind, mit dem die Menschen, die ihn lieben, im Krieg leben. Als jedenfalls an dem Tag, an dem die Krankenschwester mit dem Bohnenkind auftauchte, Annas Mutter den kleinen Azeri sah, wurde ihr großes Herz so weich wie bei jeder streunenden Katze, jedem Straßenköter, jeder Kreatur, die ohne helfende Hand nicht leben könnte. Inzwischen ist aus dem Bündel ein schlacksiger, pickelgesichtiger Teenager mit bezaubernd schüchternem Lächeln und guter Schulbildung geworden, der seine zierliche armenische Patenfamilie um Kopfeslänge überragt, wenn sie alle sich herzlich in die Arme fallen.

Obwohl es ein schöner Tag hätte sein sollen, machte es mich doch äußerst nervös, so viel Wasser auf einmal zu sehen. Es ist kein angenehmes Gefühl, in diesen Tagen so fern von zu Hause zu sein…