Wenn Heiden pilgern

Ich wollte nicht weg. Ich wollte diesen Ort nie wieder verlassen. Ich wollte einfach nur noch eine Weile sitzen bleiben, eine letzte Zigarette rauchen, und dann aufstehen und in die Wälder gehen. Einen letzten Blick werfen auf den milchgoldenen Morgendunst über den Gipfeln und dann eintauchen in das dunkle grün der Blätter. Tiefer, immer tiefer, bis die schmalen Pfade sich verlieren, bis ich mich selber verliere, bis ich mich auflöse und verschmelze mit den Farben des Waldes.

Zwei Tage war ich unterwegs in den Bergen an der Grenze zu Georgien. Unsere kleine Reisegesellschaft bestand aus einem armenischen Sternenkundler, der beeindruckende zehn Klimmzüge hintereinander machen konnte, einem amerikanischen Professor für Wirtschaft mit einem entzückend schwulen Singsang in der Stimme, einem Historiker und einem Dipl.-Ing., beide aus Stuttgart und im folgenden der Einfachheit halber Holger Hasenzahn und Axel genannt, dem armenisch-iranischen Reiseleiterteam, unserem griechischen Fahrer und mir. Gemeinsam war uns nur die Pilgerreise, auf der wir alle uns befanden, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Über die Serpentienen quälte sich der Kleinbus in Unterschrittgeschwindigkeit im Kleinen von Schlagloch zu Schlagloch, im Großen von Kloster zu Kloster durch das Land der Steine.

Steine sind allgegenwärtig in Armenien. In allen Größen, Farben und Formen. Ob als kleingemahlener Schotter auf den Pisten, als faustgroße, schwarzirisierende Obsidiande am Straßenrand aufgehaldet, als hängende Felsbrocken über der Straße, als Felder an den Berghängen oder behauen und zu Klöstern aufgeschichtet – Steine, überall Steine. Aber da kein Geologe in unserem Bus saß und wir nicht nach Steinen, sondern zwischen den Steinen nach Gott suchten, wurden die Steine selbst zum Teil der Pilgerfahrt. Gott wohnt in ihnen. Und ein Land, das so voll ist von Steinen, ist erfüllt mit Gott.

In den Klöstern selber ging es bei weitem nicht so erhaben, sondern eher lustig zu. In den Boden eingelassene klösterliche Weinamphoren verleiten nun einmal dazu, in sie hineinzuklettern, und so sah ich in Haghpat zum ersten mal eine Weinamphore von Innen. Nichts für Leute mit Platzangst, aber wenn man die nicht hat, kann man sich geborgener kaum fühlen als mitten drin im Schoß des Dionysos. Wir hatten unseren Spaß. Auf dieser Reise wurde mir die Bürde der Blauäugigkeit im übrigen von Holger Hasenzahn von den Schultern genommen. Einen Kopf kleiner als ich, die langen blonden Haare artig zum Pferdeschwanz gebunden und ein Gesicht wie ein freundlicher Troll war er die Attraktion bei den Dorfkindern. Vor allem, wenn er sich, gefolgt von dem riesenhaften Axel im Schlepptau, zu ihnen setzte und sich freundlich lächelnd auf Deutsch vorstellte: „Guten Tag, ich bin das blauäugige Fabelwesen aus einem fernen Land…!“ Deutsch verstanden die Kinder zwar nicht, aber durchaus den Inhalt seiner Worte.

Zu Beginn der Reise hatte ich noch ein wenig Bedenken gehabt, mich so nah auf den armenischen Glauben einzulassen. Am Tag zuvor hatte ich mir an der Tür des Klosters von Noravank arg den Kopf gestoßen (genau die Stelle, die eh die Narbe vom Pfosten der Küchentür trägt) und kämpfte mit einer leichten Gehirnerschütterung. Im fiebrigen Schlaf der Nacht sah ich meinen eigenen Grabstein, auf dem zu lesen war: „Sie starb auf der Schwelle von Noravank. Gott wollte nicht, daß sie ein Kloster betrete.“ Aber während ich in der Regel in katholischen Kathedralen Erstickungsanfälle und Wahnvorstellungen bekomme (für diejenigen, die die Geschichte kennen, sei hier noch einmal an die Kirche des Fürsten der Dunkelheit in Sevilla erinnert…), fühle ich mich in den armenischen Kirchen ausgesprochen wohl. In Haghartsin, das auf unserem Weg lag und zu schön ist, um es nicht ein zweites Mal besuchen zu wollen, löste sich ein schwarzgewandeter Priester aus den Schatten der Klostermauern und bat, uns segnen zu dürfen. Ich schaute ihm in die sanften Bambiaugen und fragte mich, wer von uns beiden wohl mehr Scheu vor dem anderen hat. So fremd der Gedanke an seinen Segen mir auch schien, es machte in dem Augenblick ausgesprochenen Sinn. Ich nahm es dankbar an, daß er meine heidnische Seele seinem Gott empfahl. Was der dann damit macht ist schließlich seine Angelegenheit. Wahrscheinlich hat er sie neugierig angeschaut, gelächelt, und dann weiter ihren ganz eigenen Weg ziehen lassen.

In der Kirche St. Hripsime traf ich eine Heilige. Ich stolperte die Stufen in einen kleinen Seitenraum hinunter und blieb wie angewurzelt stehen. Da stand sie und schaute mich mit leuchtenden schwarzen Augen an, das Gesicht wie von Meisterhänden aus warmem Holz gearbeitet. Ihre langen feinen Hände suchten die Wachsklümpchen im den Sandkasten für die Kerzen zusammen, ganz ruhig und liebevoll streichelten sie durch die feinen Körner. Die zarten Arme verschwanden in dem rauhen Stoff einer Kutte. Ich spürte eine Heiligkeit von ihr ausstrahlen, die mich für einen Moment die Frage vergessen ließ, wer sie sei. Die armenische Kirche kennt keine Nonnen. Frauen sollen Frauen sein, die Freude der Männer, die Mütter der Kinder. Sie sprach mich mit sanfter Stimme in fließendem Englisch an und fragte mich, wer ich sei und woher ich komme. Ihre Stimme löste meine Erstarrung und ehrfürchtig stellte ich ihr nach meinen Antworten die selbe Frage. Die schöne Datev war tatsächlich eine Nonne. Vor zwei Jahren hatte sie den Ruf gefühlt, daß es nun auch für Frauen an der Zeit sei, ihr Leben Gott widmen zu dürfen. So hatte sie mit zwei weiteren Schwestern den Orden von St. Hripsime gegründet und hoffte sehr, eines Tages die Anerkennung durch den Katholikos zu bekommen. Sollte Gott tatsächlich eines Tages ihre Gebete erhören und durch den Katholikos seinen Segen geben, wird Datev noch in Jahrhunderten als eine Heilige, die erste Nonne der armenisch-apostolischen Kirche, in der Erinnerung ihres Volkes weiterleben. Ich verließ, innerhalb von vierundzwanzig Stunden zum zweiten Mal den Segen eines fremden Gottes empfangen habend, die Kirche mit dem Gefühl, einem überaus kraftvollen Wesen begegnet zu sein.

Da das Leben, wie Heraklit sagt, ein ewiger Fluß ist, wußte ich, daß ich, um es zu leben, mich nicht in den Wäldern und Steinhalden zwischen den Klöstern auflösen durfte, sondern nach Yerevan zurückkehren mußte. Gesteinigt und gesegnet kam ich wieder an im Tal. In der Nacht brach die Hölle los. Ich weiß nicht einmal, ob es Wind war oder was sonst durch die Wohnung tobte. Ich weiß nur, daß ich aufwachte, weil der Teppich hinaus auf den Flur flog und aus der aufgewehten Schranktür die Kleidung ihm hinterhereilte. Beleuchtet wurde die Szene vom Zucken der Blitze, denen jedoch kein Donner folgte. Bis auf das Schaben und Rascheln des Stoffes auf dem Parkett und dem Heulen des Windes, wo er sich durch enge Öffnungen zu pressen suchte, war es merkwürdig still. Blick auf die Uhr. Zwanzig Minuten vor drei. Ich war zu müde, um mit dem deckenhohen offenen Fenster zu kämpfen, in dem sich zu allem Übel auch noch die zum wildgewordenen Tier mutierte Gardine verfangen hatte, und erst recht zu müde, um mich um eine Interpretation des Geschehens zu sorgen. Nein geträumt habe ich nicht. Im versöhnlichen Sonnenschein des Morgens sammelte ich kopfschüttelnd Teppich und T-Shirts wieder zusammen. Ich blinzelte zum Ararat hinüber und suchte den Regenbogen. Aber Gott blieb diesmal still.