Leben im Schatten des Ararat

Ich habe meinen Lieblingsplatz in Yerevan gefunden. Hoch oben auf einem Hügel, direkt zu Füßen der Statue von Mutter Armenien. Sie steht dort, wo einst Stalin grimmig gen Süden blickte. In diese Richtung schaut auch sie, wachend über die Hauptstadt ihres Volkes, hinter der sich aus dem Dunst der Ebene der heilige Berg der Armenier, der Ararat, erhebt. Auf den sind ihre traurigen Armenieraugen gerichtet, sich sehnend nach dem, was ihrem Volk genommen wurde. An wolkenlosen Tagen scheint der Ararat zum Greifen nah zu sein. Man möchte sich aufmachen und hinüberlaufen, und doch liegt zwischen dem Betrachter und dem Berg die Grenze, die kein Armenier übertreten darf. Der Berg, der im armenischen Staatswappen die zentrale Position einnimmt, liegt unweigerlich auf türkischem Feindesland. Der Berg, den die Armenier brauchen, um Wassermelonen essen zu können. Denn erst wenn der Schnee auf dem kleinen Ararat geschmolzen ist, so will es die Tradition, ist die Zeit für Wassermelonen gekommen. Pech, wenn der Beginn der Wassermelonenernte in diesige Tage fällt, an denen Schnee und Wolken über den Todesstreifen hinweg ununterscheidbar bleiben.

Etwas hilflos und verloren steht Mutter Armenien nun dort oben und schüttelt das Schwert in Richtung Grenze. Unter ihren gigantischen Füßen liegt ein kleines Museum, das den gefallenen Söhnen ihres Volkes gewidmet ist. Viele Fotos, ein Paar Handschuhe mit Löchern, ein Brief von der Front und die Stellwand mit Bildern von Frauen, die tapfer unter dem Rot-Kreuz-Käppi hervorschauen. Das bezeichnendste an diesem Museum sind jedoch die Panzer, die um die Statue von Mutter Armenien herum aufgestellt sind. Wie Spielzeug aus dünnem Blech wirken sie, alle kinderarmdürren Geschützrohre grimmig auf die Türken gerichtet, aber so wirkungslos wie eine Mistgabel gegen ein U-Boot. Die grüne Farbe blättert an vielen Stellen, nur das Rot-Blau-Aprikose am Geschützturm ist sorgfältig nachgemalt. Hier zwischen den Panzern zu Füßen von Mutter Armenien, bis wo hinauf nur ab und zu das Tosen der Stadt, das Hupen und Rufen, seinen Weg findet, herrscht ein erschöpfter Frieden.

Langsam lerne ich, mich durch diese Stadt zu bewegen. Fast perfektioniert habe ich den Hüftschwung, mit dem man sich am Abgrund einer Baustelle an der obligatorischen kleinen Herde Männer vorbeidrückt, die den – soweit vorhandenen – Fußweg blockieren. Auf einen Menschen, der Arbeit hat, kommen etwa fünfzehn, die keine haben und dem sechzehnten zuschauen. Wer den Bürgersteig tatsächlich zum Gehen benutzen will, dem bleibt nur, sich mit akrobatischen Verrenkungen an ihnen vorbeizutänzeln. Auch das Überqueren von Straßen beherrsche ich inzwischen. Diese Aufgabe mag dem Nordeuropäer simpel erscheinen. Aber in einem Land, in dem die Hupe die Bremse ersetzt, in dem zwar jede Menge neuer Fußgängerampeln an Straßenkreuzungen stehen, von denen ich jedoch noch keine in Funktion gesehen habe, und die, selbst wenn sie funktionieren würden, wahrscheinlich ebensowenig Beachtung fänden wie die Ampeln für Autos, einem Land, in dem die einzige Verkehrsregel ist „Sieh‘ zu, daß Du überlebst“, ist jede Straßenüberquerung ein heroischer Akt. Beim Autofahren leben die Armenier ihre orientalischen Wurzeln aus, die sie sonst so sorgsam zu kaschieren wissen. Mein Überlebenstrick ist im Grunde ganz einfach. Ich schleiche mich von hinten an einen Armenier heran, der so aussieht als hätte er ebenso wie ich die andere Straßenseite als Ziel, und hefte mich an seine Fersen – renne, wenn er rennt, grabe meine Hacken in den Asphalt, wenn er zu einem plötzlichen Stop kommt und schlendere gemächlich, wenn das sich nähernde Fahrzeug ein Bus ist, denn die sind so langsam, daß man auch bequem auf einem Bein hinkend die Straße überqueren könnte. Am meisten freue ich mich jedoch, endlich gelernt zu haben, in welchem Winkel man während der wasserlosen Stunden den Inhalt des Wassereimers in die Toilettenschüssel gießen muß, damit das Klopapier nicht wieder nach oben geschwommen kommt.

In den letzten Tagen habe ich sogar tatsächlich gearbeitet, d. h. ich habe lustige kleine ExposŽes geschrieben, die ich wem-auch-immer anbieten könnte. Mein erster Arbeitstag führte mich geradewegs in die Brandy-Fabrik. Hier reift der berühmte Ararat-Brandy in alten Eichenfässern vor sich hin. Berühmt? Nun ja, im Westen war er schon immer nur schwer zu bekommen. Selbst Winston Churchill hatte ihn noch nicht gekostet, bevor er in Yalta sein erstes Glas Ararat kippte… War aber so begeistert davon, daß er sich fortan 300 Flaschen pro Jahr schicken ließ.

Nicht ganz so lustig ist die Geschichte des Kernkraftwerkes Metsamor. Es ist der erste Fall in der Geschichte der Nuklearenergie, daß ein bereits wegen Sicherheitsrisiken (u. a. Erdbeben) stillgelegtes Werk nach sechjähriger Pause wieder in Betrieb genommen wurde. Die Armenier hatten keine Wahl, sie wären sonst schlichtweg erfroren. Unter internationalem Druck erklärten sie sich bereit, den Reaktor 2004 wieder abzuschalten. Bis dahin sind es noch 1 1/2 Jahre, aber eine Alternative zu Metsamor ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, es ist nicht nur kein Geld da, um alternative Energiequellen zu erschließen, es ist noch nicht einmal Geld da, um Metsamor stillzulegen. Das einzige, was sich die Armenier zu diesem Zeitpunkt leisten können ist, das Werk einfach immer weiter laufen zu lassen.

Zurück zu friedlicheren Dingen. Heute waren wir auf Familienausflug in Khor Virap. Apropos Familie, an dieser Stelle muß ich kurz einschieben, daß ich diese Familie wirklich liebe. Wir haben inzwischen die Scheu voreinander verloren, die natürlicherweise zwischen Menschen besteht, die keine gemeinsame Sprache sprechen. Hände und Augenbrauen sind für jegliche Kommunikation völlig ausreichend. Außerdem haben wir ein altes Russisch-Deutsches Phrasenbuch aus DDR-Tagen, das für endlose Stunden der Unterhaltung sorgt. Es lehrt den eifrigen Studenten so sinnige Sätze wie „Wo bitte ist das nächste Automaten-Restaurant?“ oder „Wie komme ich zum Palast der Republik?“ Es ist schon etwas länger her, daß Annas Eltern einmal Deutsch in der Schule gelernt haben, aber zumindest einen Satz kann Annas Mutter noch heute auswendig in akzentfreiem Deutsch vortragen: „Lang lebe Genosse Stalin!“ Diesen Satz kann man durchaus vielfältig verwenden. Er dient uns nun als Synonym für „Woher soll ich das Wissen?“, für „Das hast Du sehr gut gemacht!“ und mangels Alternativen auch als all-abendlicher Trinkspruch.

Aber eigentlich wollte ich von Khor Virap erzählen. Es ist der Punkt Armeniens, der dem Ararat am nächsten liegt, in einer Ausbuchtung des Stracheldrahtes, der die Grenze markiert. Außerdem saß hier Gregor der Erleuchtete zwölf Jahre lang in einem Brunnenschacht, bevor König Trdates III. ihn 303 n. Chr. wieder ans Tageslicht holte. In den Brunnen führt heute eine rostige Leiter und unten ist ein kleiner Schrein, vor dem man zu Gregor beten kann. Jedenfalls ein kurzes Stoßgebet, bis die stickige Luft im Schacht einem das Bewußtsein raubt. Einfacher ist das Gebet in der kleinen überirdischen Kapelle nebenan. Als wir aus dem Brunnenschacht heraufgeklettert kamen, näherte sich gerade ein Zug mit einem Täufling der Kapelle und wir mischten uns unter die Gesellschaft. Ehe ich mich versah, wurden mir vom Vater des Kleinen zwei Kerzen in die Hand gedrückt und Anna raunte mir zu: „Er bittet Dich, die für seinen Sohn anzuzünden.“ Auch wenn er und ich an verschiedene Götter glauben, habe ich mir selten für einen Menschen konzentriert auf wenige Minuten so viel Gutes gewünscht wie für dieses Kind. Der Priester, der die Taufe vollzog, schien seinem Alter nach gemeinsam mit Noah die Arche verlassen zu haben. Seine faltigen Hände hielten den Täufling so sicher, während er mit zittriger Stimme die alt-armenischen Worte sang, daß man ahnte, er hat in seinem langen Leben bereits ganzen Generationen von kleinen Armeniern das Kreuz auf die Stirn gedrückt.

Beim Abstieg vom Hügel von Khor Virap kam uns eine andere Gesellschaft entgegen, die einen nichtsahnenden Hahn den Hügel hinauftrug, der sein Ende auf dem Altar finden sollte. Das Blut seiner Brüder, die die Sonne an diesem Tag bereits nicht mehr im Zenit gesehen haben, klebte schon auf den ausgetretenen Stufen. Doch in Khor Virap wird noch eine andere Art des Tieropfers praktiziert. Unten am Hügel stehen die Händler mit den Käfigen mit weißen Tauben. Ich fühlte es an der Zeit, den Wendepunkten in meinem Leben Anerkennung zu zollen. Mein eigenes Opfer der Dankbarkeit zu bringen. Der kleine Vogel in meiner Hand wartete ruhig, bis ich ihm alles, was ich hinter mir zu lassen gewillt bin, zugeflüstert hatte. Dann warf ich die Taube in die Luft und sie machte sich in einem großzügigen Halbkreis auf gen Ararat. Ich schaute ihr nach und fühlte, wie sie ein Stück meiner Vergangenheit mit sich nahm.

Noah ließ ein paar Kilometer den Berg hinauf einst auch eine Taube frei. Und ebenso wie Noahs Taube wird diese, wenn auch vielleicht ohne Ölzweig im Schnabel, wieder nach Khor Virap zurückkehren. Die weißen Opfertauben sind wie Brieftauben darauf abgerichtet, sich immer wieder in ihrem Schlag einzufinden. Sie sind die wohl einzigen recyclebaren Opfertiere der Welt.