Im Land der Bambiaugen

Soll ich sagen, daß ich fast ein bißchen enttäuscht bin? Ich hatte den Orient erwartet. Während der langen Abende im norddeutschen Dauerregen hatte ich mir Begriffe wie „Seidenstraße“ und „persisches Herrschaftsgebiet“ genüßlich über die Zunge rollen lassen, freute mich auf den Staub, den geliebten, auf Lastwagen, die Abends durch die Straßen fahren und Diesel gegen die Mücken versprühen. Und was finde ich? Nichts von alledem…

Die Armenier haben hier in diesem Flecken Land, der ihnen in den kargen Bergen des südlichen Kaukasus zugewiesen wurde, eine Oase der Zivilisation geschaffen. Tapfer halten sie inmitten des Orients ihre rot-blau-aprikosenfarbene Flagge (kein Scherz, die offizielle Bezeichnung dieser Farbe ist „Aprikose“) der Kultiviertheit hoch. Wo andere Völker mit den Schultern zucken, wenn etwas nicht funktioniert, packen die Armenier zu und machen das Beste daraus. Gut, es gibt kein Wasser. In Yerevan ist die Wasserzufuhr auf je drei knappe Stunden am Morgen und am Abend beschränkt. Statt nun während der übrigen Stunden auf Wasser zu verzichten, hat Annas Familie überall in ihrem Appartment riesige Goldfischbecken installiert, die genügend Wasser speichern, um über den Tag und durch die Nacht zu kommen. Auch Strom gibt es nicht immer. Aber habt ihr schon mal die Kellerräume eines Museums beim Schein von Kerzen besichtigt? Goldschmuck sieht bei Kerzenschein einfach viel besser aus als im Neonlicht, ich würde mir diese sanfte Beleuchtung für so manch europäisches Museum wünschen…

Yerevan. Eine Stadt in pink und grün. Pink sind die Gebäude, die aus dem lokalen Tuffstein gebaut sind, grün die Bäume, die die breiten Alleen säumen. Wie schön muß es hier sein, wenn einmal die Bauarbeiten abgeschlossen sind, die zur Zeit noch sämtliche Straßen in eine Art Mondlandschaft verwandeln. Sie werden abgeschlossen sein, wenn einmal genügend Geld da ist. Wenn… Bis dahin sind es die liebevollen Details, die die Stadt erträglich machen und geschickt über die Armut hinwegtäuschen. Die hohen Wasserfontänen auf dem Platz der Republik lullen den Spaziergänger in die Illusion des Wasserreichtums. Dabei wurden nur ein paar tausen Liter geopfert, die durch riesige unterirdische Tanks im ewigen Kreislauf immer wieder aufs neue in die Luft geschleudert und Tropfen um Tropfen wieder aufgefangen werden. Nachts mutiert Yerevan in einem gigantischen Vergnügungspark. Auf den breiten Streifen zwischen den Mondlandschaften gegen die bunten Lichter auf, surren die Zuckerwattebecken, kreiseln die Kettenkarussells, alles dreht sich, bewegt sich, lacht und tanzt. Jeden Abend. Jede Nacht.

Ja, die Armenier. Ein Volk von Rehen. Es sind nicht nur diese riesigen Bambiaugen, auch der zierliche Körperbau und die fein geschnittenen Gesichter der Armenier scheinen den scheuen Waldbewohnern nachempfunden. Unter diesen zarten Menschen falle ich, um es mal vorsichtig auszudrücken, ein wenig aus dem Rahmen. Die Unterschiede in der Bauart könnte man vielleicht noch kaschieren, auch wenn ich sicher nicht als Reh, sondern eher als Modell „Deutsche Eiche“ gehandelt würde. Vielmehr jedoch sind es meine Augen, wegen derer ich manchmal fast ein wenig Angst habe, die Armenier könnten mich in einer mondlosen Nacht abfangen und in den Zoo sperren. Ich bin es ja durchaus gewohnt, daß Männer mir auf den einen oder anderen Körperteil starren. Nur hier schauen sie mir direkt in die Augen, und mehr als einmal ist es passiert, daß die armen dann wie angewurzelt stehen bleiben, beim Weitergehen über ihre eigenen Füße stolpern oder sogar fassungslos den Unterkiefer fallen lassen.

Gestern machte ich mich auf, die entlegeneren Winkel dieses Landes zu erkunden. Da Touristen in diesem Land rar sind, war ich die einzige, die sich am Morgen bei der kleinen Reiseagentur einfand. Und so machten wir uns zu dritt auf den Weg, ein Fahrer, ein Tourguide und ich, bewaffnet mit guter Laune und jeder Menge Pfirsichen. Die Tourguides dieser Agentur sind allesamt Akademiker, denen im Angesicht der Arbeitslosigkeit nichts anderes übrigbleibt, als ihr Wissen, statt es in Büchern zu konservieren, an die Besucher ihres Landes weiterzugeben. Hayk, mein Guide für diesen Tag, wurde jedenfalls nicht müde, die historischen Hintergründe armenisch-persich-russisch-türkischer Schlachten der letzten tausend Jahre vor mir auszubreiten und hatte in mir einen dankbaren Zuhörer gefunden. Unsere erste Station war Vanadzor, das sich von dem schweren Erdbeben 1988 noch lange nicht erholt hat. Es ist wohl die häßlichste Stadt Armeniens. Wollte ich je einen bitterzynischen Film über die dunkle Seite der Zivilisation drehen, ich würde Vanadzor als Kulisse wählen. Düster rosten die sowjetischen Chemiefabriken vor sich hin und überziehen die Regenpfützen mit giftigem Schiller. Häuser, die einst gerade standen, werden durch skelettartige Eisenkonstruktionen daran gehindert, sich der Erschöpfung vom Aufrechtstehen hinzugeben und mit einem Seufzer endlich in sich zusammensinken zu dürfen. Blechcontainer sind in Vanadzor bei weitem eine sicherere Wohnstätte als jedes Gebäude, das mehr als ein Stockwerk besitzt. Da Plattenbauten jedoch von Natur aus mehrstöckig gebaut sind, hoffen die Bewohner von Vanadzor in ihren Blechcontainern innig, beim nächsten Beben nicht von ihnen erschlagen zu werden. Hier tritt ein augenfälliger Kontrast der verschiedenen Architekturen in diesem Land deutlich zu Tage. Was sowjetischer Bauart ist, hat eine Lebensspanne von vielleicht zwanzig Jahren. Was armenische Hände errichteten, kann mühelos zwei Jahrtausende überdauern.

So unser nächstes Ziel, das Kloster Haghartsin. Die armenische Kirche hat sich nie weit vom Urchristentum und damit von den hellenistisch geprägten Kulten ihrer Entstehungszeit entfernt. Noch heute sind alte Riten wie Blutopfer und Feuerprobe ein fester Bestandteil der gelebten Religion. So anders wie der Gottesdienst sind auch die Orte, an denen die Armenier ihre Kirchen bauen. Weit ab von den Siedlungen liegen sie auf Bergkämmen oder tief in den Wäldern versteckt, damit der Weg dorthin lang und beschwerlich ist. So sollen die Alltagssorgen auf dem Weg in die Kirche zurückgelassen werden. Nur so, sagen die Armenier, ist man offen und bereit, das Wort Gottes zu empfangen. Die Mauern Haghartsins ragen seit dem 10. Jahrhundert unverändert trotzig aus dem Baumwipfeln einer spektakulären Berglandschaft hervor.

„Armenische Schweiz“ nennt man diese Landschaft, und in der Tat machte sich in mir beim Anblick der braunen Kühe, der grünen Berge, der klaren Bäche wieder jene leise Enttäuschung breit, daß dies so ganz und gar nicht meinen romantischen Vorstellungen von „Seidenstraße“ entspricht. Doch die gute Laune konnte das nicht trüben. Unser Fahrer legte eine Kassette mit Weihnachtsliedern ein und singend rollten wir die Berge wieder hinab. Das hätten wir allerdings lieber bleiben lassen sollen. Der Wettergott schreckte aus seiner sommerlichen Siesta auf, und gab sich alle Mühe, im Halbschlaf die Schleusen des Himmels der vermeintlich schon weit fortgeschrittenen Jahreszeit anzupassen. Binnen Minuten waren die Straßen weiß vom Hagel. Nicht die nadelfeinen Körner des norddeutschen Flachlandes, sondern erdbeergroße Geschosse mit der Durchschlagskraft von Eisenkugeln. Später in den Abendnachrichten erfuhr ich, daß dieses Unwetter die gesamte Ernte der Region vernichtet hat. Raus, nur raus da.

Wir suchten Schutz vor dem Unwetter in einem idyllischen Picknick-Unterstand am Abgrund, den Freunde eines in Karabagh gefallenen Soldaten ihm zum Gedächtnis gebaut haben, verspeisten die Pfirsiche und warteten auf die Sonne. Als der Wettergott endlich seinen Irrtum bemerkte und regenbogenmalend die Sommersonne wieder hinter den Wolkenbergen hervorzerrte, erwies sich unser Fahrer als wahrer Held im Gelände. Der Abhang hatte sich in eine glitschige Rutschbahn in die Tiefe verwandelt, die Räder drehten durch und wir glitten langsam dem Abgrund entgegen. Aber was wäre ein Ausflug ins Hinterland ohne ein bißchen Abenteuer. Ich kann nicht leugnen, daß ich mich unendlich wohl fühlte, als wir den Bus nach Schieben und Schuften wieder zurück auf die serpentinige Schlaglochpiste gehievt hatten, und der Schlamm an meinen Beinen langsam zu einer krümelnden Kruste trocknete. Ich weiß auch nicht, warum ich den Dreck so liebe. Der Archäologe in mir schlummert eben doch nur knapp unter der Oberfläche.

Weiter gings zum See Parz. Eine Feenlandschaft mitten im Märchenwald. Bären gibt es hier, Wölfe, Luchse, und ich bin überzeugt, daß auch das eine oder andere Rotkäppchen in diesen Wäldern sein Unwesen treibt. Der See lag milchigweiß schimmernd in der Nachmittagssonne. Unser Fahrer wurde unruhig. „Darf ich?“, fragte er hoffnungsvoll bettelnd auf seine Angelrute zeigend. Wir hatten Zeit, die Sonne schien, und während die Männer sich zu einem Angler gesellten, der nur mit Tarn-Baseballmütze und Unterhose bekleidet am Ufer glücklich Rauchkringel in die stille Luft blies, machte ich mich auf die Suche nach den wilden Tieren. Wie gerne hätte ich einen kaukasischen Bären wenn schon nicht vor die Flinte, dann doch wenigstens vor die Kamera bekommen, aber alles, was ich aufschreckte, waren Herden von Kröten. Auch unser Fahrer hatte kein Jagdglück. Statt am Ufer des Sees Fisch grillen zu können, mußten wir uns hungrig auf die letzten Pfirsiche stürzen und machten uns anschließend erschöpft und erfüllt von einem langen Tag auf den Heimweg.

Ich versuche mein Bestes, um Anna aufzumuntern, die im Angesicht der Armut ihres Landes oft am Verzweifeln ist. „Wir haben nichts, gar nichts“, sagte sie. „Das Einzige, an das wir uns zum Überleben klammern können, ist unsere Geschichte.“ Geschichte, egal ob zwei Jahrtausende vor der Zeitenwende oder zwei Jahrtausende danach. Oft werde ich ganz offen und direkt zur Haltung der Deutschen gegenüber den Juden gefragt. Und wenn ich dann ansetzte, um lang und breit die Vielschichtigkeit unseres Schuldkomplexes zu erläutern, werde ich meist schon nach wenigen Sätzen mit einem Augenaufschlag aus traurigen Armenieraugen unterbrochen. „Warum, WARUM, können die Türken nicht auch nur halb so viel Einsicht zeigen, wie die Deutschen…“ Der Stachel sitzt tief in der Seele der Armenier. Es ist eines der wohl friedfertigsten Völker. Selbst der Karabagh-Konflikt scheint sie eher zu erschrecken, trauen sie sich selber doch kaum eine derartige Aggressivität zu. Es ist diese Friedfertigkeit, diese Sanftmut, wegen derer sie durch die Jahrtausende zwischen den Mühlsteinen der Großreiche fast, aber immer nur fast zerrieben wurden. Das Rehhafte in ihnen. Selbst wenn ein Armenier lacht, scheinen seine großen, braunen Augen zu weinen.