Besuch bei Lenin

Der Mensch ist unglaublich zäh und widerstandsfähig. Wir müssen uns bei weitem keine Sorgen um unsere Umwelt machen, da ist noch viel Spielraum, in dem wir überleben können. Treibhauseffekt? CO2-Gehalt? Ha! …

Moskau Anfang August 2002. Die Waldbrände allein wären noch nicht so schlimm gewesen. Das Problem war, daß der Torf Feuer fing. Kein Mensch würde freiwillig Torf in seinem Kamin anzünden, schlicht wegen der Rauchentwicklung. Nun stellt Euch eine durchschnittliche Großstadt vor, mit den durchschnittlichen Autoabgasen, der durchschnittlichen Dunstglocke der Ausdünstungen von Millionen Menschen, Nehmt dieses Bild und erhitzt die Temperatur auf 35 Grad. Okay, und jetzt langsam, ganz vorsichtig, blast den Qualm von Torffeuern in diesen Hexenkessel hinein. Mehr, immer mehr. Bis der CO2 Gehalt den für menschliches Überleben empfohlenen Grenzwert um ein vielfaches übersteigt. Man überlebt trotzdem. Irgendwie überlebt man. Zwar füllen sich bei jedem Atemzug die Lungen nicht mit Sauerstoff, sondern mit einem undefinierten bräunlichen Gasgemisch, aber irgendwie funktioniert der Körper weiter.

„Was möchtest Du sehen?“ fragte mich Anna auf dem Weg vom Flughafen, während ich Schwierigkeiten hatte, bei dem Blick aus dem Autofenster Traum und Realität zu unterscheiden. „Lenin“, murmelte ich, unfähig meinen Blick von den Zuckerwerk-Türmen des Kreml zu reißen, „ich möchte Lenin sehen!“ Annas Augen drehten sich gen Himmel. „Sie ist hier in Moskau, und alles, was sie sehen will, ist ein alter, toter Mann…“ Zwei Tage, vier Menschenschlangen, sechs Wachposten und drei Treppen in die Tiefe später stand ich vor seinem gläsernen Sarg. Das Gesicht so bekannt von Statuen, Briefmarken, Münzen, Kaffebechern und Ziertellern. Selten habe ich GESCHICHTE und Vergänglichkeit so intensiv nach meinem Nacken greifen spüren wie hier an Lenins Sarg. Der Tod scheint ihn nicht berührt zu haben, nur nach seinem linken Zeigefinger hat er gegriffen. Der ist schwarz.

Moskau selber ist eine charmant unprätentiöse Stadt. Sie hat frappierende Ähnlichkeit mit Steilshoop, nur daß man in Steilshoop zwischen den grauen Plattenbauten mit den nicht funktionierenden Aufzügen keine goldgedeckten Türmchen stehen hat. Ein bißchen wie eine Müllhalde, auf der unsystematisch Diamanten ausgestreut wurden. Nur daß die Diamanten zuerst da waren, und die Menschen einfach nur schon so lange zwischen diesen Juwelen leben, daß sie sich Siedlungsschicht um Siedlungsschicht an sie heran und um sie herum gewohnt haben, bis Glanz und Gosse eine untrennbare Einheit bilden.

Nachdem wir an dem fünften oder sechsten Verwaltungsgebäude des Reiches vorbei gefahren waren, die allesamt die Größe einer mittleren Kleinstadt zu haben schienen, dämmerte es mir, wie riesig das Gebiet ist, das von diesem Land verwaltet wird. „Sibirien“, flüsterte ich voller Ehrfurcht, und stellte mir den sibirischen Ölarbeiter vor, der zum ersten Mal nach Moskau kommt. Wahrscheinlich wäre eine Reise zum Mond kürzer und würde ihn weniger kulturellen Unterschieden aussetzen. Ich versuchte, in der brandigen Luft tief durchzuatmen, und fügte der Liste hinzu, daß wahrscheinlich auch die Luft auf dem Mond für ihn verträglicher ist als die Moskaus. Beim Anblick dieser Verwaltungsgebäude verstand ich, was Größe ist. Das hatten mir in dem Maße nicht einmal die Weizenfelder des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten vermitteln können.

Gestern Ankunft in Yerevan. Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn Anna nicht ein spezielles Papier mit irgendeiner wichtigen Unterschrift von wem-auch-immer für mich besorgt hätte, sie winkte nur bescheiden meine Fragen ab und schob mich vor sich her durch den Seiteneingang für Diplomaten in ein angenehm kühles Warte-Wohnzimmer in einem Seitenflügel des Flughafens. Was mit den anderen Passagieren des Fluges passiert ist, weiß ich nicht. Annas Blicken zu Folge warten sie noch jetzt während ich schreibe in der brütenden Hitze auf dem Rollfeld auf ihr Gepäck.

Ja, jetzt bin ich endlich angekommen im Land der Bambiaugen, aber das ist erst die nächste Geschichte…