Das Geheimnis der durstigen Ponys

Nicolas Delsol interessiert sich eigentlich nur für Kühe. Der Archäologe, der am Florida Museum of Natural History arbeitet, verfolgt akribisch ihre Wege auf den amerikanischen Kontinenten. Da Rinder ursprünglich weder in Nord- noch in Südamerika heimisch waren, setzten sie erstmals im späten 15. Jahrhundert gemeinsam mit den spanischen Entdeckern und Eroberern ihre Hufe auf amerikanischen Boden. Die Rinderzähne aus dem spanischen Piratennest Puerto Real im Norden der Insel Haiti, das seine Blütezeit im 16. Jahrhundert hatte, schienen ihm folglich ein Schatzfund für seine Studien. Als er sich aber die DNA aus den Zähnen genauer ansah, stach einer heraus. Das Fragment eines Backenzahns, das er da in der Hand hielt, war gar kein Kuh-Kauwerkzeug – sondern stammte von einem Pferd. Und da Pferdeskelette in den archäologischen Hinterlassenschaften deutlich seltener sind als Kuhknochen, legte er die Rinder erst einmal beiseite und beschloss, zunächst der Herkunft dieses Pferdes nachzugehen. Für Archäologen entspricht der Fund eines Pferdezahns in den frühen amerikanischen Siedlungen einem Sechser im Lotto. Denn während Rinder Nutztiere waren, die in grossen Mengen zur Produktion von Fleisch und vor allem Leder gehalten wurden, galten Pferde als Statussymbol. Entsprechend füllen die Knochen von Rindern riesige Abfallgruben, doch Skelette von Pferden sind rar. Im Grunde nahm Delsol aber nur einen kleinen Umweg: «Von Anfang an verbreiteten sich die Rinder in Amerika sehr schnell, weil sie hier auf einen Lebensraum trafen, der ihnen gut bekam. Pferde aber waren essenziell für das Management grosser Rinderherden. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sie nur kurze Zeit nach den Rindern in Amerika ankamen und mit ihnen über den Kontinent wanderten», sagt er.

Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 02. Oktober 2022.
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