Erschienen in Bild der Wissenschaft 08/2013.
Ein Kater des 21. Jahrhunderts hilft, den Leiden der alten Pharaonen auf die Spur zu kommen.
Zu Lebzeiten war Yes ein zufriedener Hauskater. Wahrscheinlich floss mehr oder weniger Siamesenblut durch seine Adern, erkennbar an dem kurzen, hellen Fell, den dunklen Pfoten und der schwarzen Schnauze. Wenn sein zweibeiniger Dosenöffner tagsüber zur University of Western Ontario fuhr, um dort Anthropologie zu studieren, döste er friedlich in der Sonne oder beobachtete die Vögel in den Bäumen. Und wenn sein Herrchen nach Hause kam und pflichtschuldig die Futterdose in den Napf geleert hatte, wurde anschließend gespielt und gekuschelt. Alles in allem: Ein wunderbares Katzenleben. Doch 2003 ging es Yes zunehmend schlechter. Wenig später ließ sich nichts mehr machen: Der Kater starb an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung. Doch der Tod war erst der Anfang von Yes‘ wirklicher Karriere.
Der trauernde Besitzer packte den toten Kater ein, fuhr an die Uni und brachte ihn zu Andrew Nelson. Dort war das verstorbene Tier in guten Händen: Der Anthropologieprofessor balsamierte Yes nach allen Regeln der ägyptischen Kunst ein und machte aus dem Kater eine Mumie. Seitdem dient Yes der Wissenschaft. „Ursprünglich wollten wir die Frage klären, ob ägyptische Mumifizierungstechniken zu Veränderungen im Gewebe führen, die wir dann fälschlicherweise für Krankheiten halten“, erklärt Andrew Wade, der sich seit 2006 gemeinsam mit seinem Doktorvater Andrew Nelson um die Mumienkatze kümmert. Vor allem die Knochen interessierten die Forscher. Der Grund: Bei der Mumie von Ramses II. (etwa 1303 bis 1213 v. Chr.) erscheinen die Rückenwirbel auf den Röntgenaufnahmen verdichtet. Deshalb vermuteten einige Anthropologen, dass der Pharao zu Lebzeiten an Morbus Bechterew (Spondylitis ankylosans) litt, einer rheumatischen Erkrankung der Gelenke. Yes sollte klären: War es die Mumifizierung, die Spuren am königlichen Rückgrat hinterlassen hatte? Oder litt der große Ramses schon zu Lebzeiten an starken Rückenproblemen?
Um Yes‘ Zustand nach dem Tod genau zu dokumentieren, kam der Kater in den Computertomografen. Danach erhielt er genau jene Behandlung, die auch ein verstorbener Pharao genoss – soweit sie bekannt ist. Zwar berichten die griechischen Geschichtsschreiber Herodot und Diodorus Siculus sehr detailliert, wie die Einbalsamierer einen Leichnam mumifizierten – doch dass findige Ägypter den beiden Griechen vielleicht nicht ganz die Wahrheit erzählt haben, vermuten Wissenschaftler schon lange.
Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Gehirn. Wer erinnert sich nicht an die gruseligen Schilderungen in Büchern über das alte Ägypten – wie die Einbalsamierer das Gehirn mit einem gebogenen Draht durch die Nase herausziehen. Wenn das tatsächlich gängige Praxis war, warum haben dann so viele Mumien ihr Hirn noch im Kopf? Andrew Nelson jedenfalls ließ Yes‘ Schnuppernäschen heil und sein Gehirn im Katzenschädel.
„Als Vorlage für die Mumifizierung diente nicht Herodot, sondern wir haben die spärlichen ägyptischen Quellen, die wir kennen, zu Rate gezogen“, erklärt Wade. Das sind genau zwei: der Papyrus Boulaq 3 im Ägyptischen Museum in Kairo und der Papyrus 5158 im Louvre. Die Schriftstücke stammen zwar erst aus römischer Zeit, sind aber vermutlich Abschriften von ein und demselben älteren Text. Doch wer ihn auch immer verfasste, er interessierte sich weniger für die blutigen Details als vielmehr für die rituellen Handlungen rund um die Mumifizierung. Statt einer Erklärung, wie das Gehirn zu entfernen sei, finden sich darin Gebetsformeln, die der Priester während der Einbalsamierung aufsagen sollte.
Aus Mangel an Schriftquellen verließ sich Nelson also hauptsächlich auf seine eigenen Beobachtungen. Der Mumienexperte hat in seinem Forscherleben schon so einiges an Mensch und Tier untersucht, was für die Ewigkeit konserviert wurde. Zunächst entfernte er Yes alle Organe, bis auf Hirn und Herz. Dann wurde der Kater über einen Zeitraum von 70 Tagen in Natron getrocknet. Das Natron ist der Schlüssel für eine gelungene Mumifizierung – es entzieht dem Gewebe das gesamte Wasser. Die Ägypter holten ihr Natron aus der Sketischen Wüste, auch Wadi el-Natrun genannt. Die dort natürlich vorkommende Mischung aus Natriumchlorid (NaCl), Natriumhydrogencarbonat (NaHCO3) und Natriumcarbonat (Na2CO3) eignet sich hervorragend für die Entwässerung. Der Tote wurde auf die Salzmischung gebettet und dann vollständig damit bedeckt. Nach wenigen Wochen steckte kaum noch Wasser in den Zellen, das heißt das Fleisch konnte nicht mehr faulen.
Auch für Yes mischte Nelson die Salze in genau jenem Verhältnis, wie es im Wadi el-Natrun vorkommt. Am Ende wickelte er Yes in Leinenbandagen und malte ihm ein freundliches Katzengesicht auf die Mumienwickel. „Um sein Aussehen als Katze wieder herzustellen“, schmunzelt Wade. „Das war bei Tiermumien so üblich.“
Als nächstes lag Yes zwei Monate lang in seiner Aufbewahrungsbox im bioarchäologischen Labor der University of Western Ontario. Dort sollte es ihm ähnlich ergehen wie den Pharaonen: „Wir halten das Raumklima ziemlich gleichmäßig trocken und kühl – ganz wie in einem unterirdischen Grab“, so Wade.
Dann folgte der erste Check: Hatten sich die Knochen und Muskeln von Yes seit seinem Tod verändert? Nelson und Wade nutzten alle modernen Methoden, die ihnen zur Verfügung standen. Mithilfe der Mikrotomografie bildeten sie sein Inneres bis zu Pixelgröße im Mikrometerbereich ab und schoben ihn in den Kernspintomografen. Yes wurde eingehender durchleuchtet als wohl jede andere lebende oder tote Katze bisher.
Und das Ergebnis? Die Bilder sahen ganz anders aus als jene vor acht Wochen. „Wir konnten beobachten, dass die Muskeln ihr Wasser verloren hatten, stark geschrumpft und etwas dichter geworden waren. Das Fett hingegen war weitgehend unverändert“, berichtet Wade. All das Dosenfutter, das Yes zu Lebzeiten bekommen hatte, blieb also nach seinem Tod als Fettschicht gut erhalten. „Am wichtigsten war, dass die Veränderungen im Gewebe nicht von Krankheiten herrühren“, sagt Wade. Das Muskelgewebe hatte sich zwar verdichtet, die Knochen aber waren gleich geblieben. „Mit dieser Erkenntnis fällt es uns jetzt leichter, verändertes Gewebe in Mumien eindeutig als Krankheiten zu diagnostizieren“, jubelt Wade. So half ein kanadischer Hauskater, Licht in das Leben eines seit mehr als 3000 Jahren verstorbenen Pharaos zu bringen: Es könnte also sein, dass Ramses II. an Morbus Bechterew litt.
In Yes‘ Gehirn zeigten sich durch die Mumifizierung deutliche Veränderungen: Es „verschwand“. Ebenso wie das Muskelgewebe schrumpfte die graue Masse erheblich. Die kläglichen Reste folgten der Schwerkraft und sammelten sich am Boden der Schädelhöhle. Nicht selten gehen Forscher davon aus, dass die Einbalsamierer das Gehirn herausgepfriemelt hatten – und suchten auf ihren Mumienscans auch gar nicht danach. Dabei könnten sie die verschrumpelte Masse schlicht übersehen haben. Das würde erklären, warum bei einigen scheinbar hirnlosen Mumien die Nasenöffnung auffallend intakt geblieben ist.
Die Ergebnisse passen nahtlos zu einer Studie, die Nelson und Wade Anfang 2013 veröffentlichten. Sie fragten sich, wie stark sich die Beschreibungen von Herodot und Diodorus Siculus und das alltägliche Handwerk der ägyptischen Einbalsamierer unterschieden. Dazu prüften sie über 150 Mumien auf Herz und Gehirn. Anders als bei den Griechen beschrieben, lag das Herz nur bei etwa einem Viertel der Toten noch dort, wo es hingehörte, und ein Fünftel der Mumien hatte noch ein Gehirn im Kopf. Es scheint also bei weitem nicht die Regel gewesen zu sein.
In den folgenden acht Jahren nahmen Nelson und Wade den Kater immer wieder aus seiner Kiste und untersuchten ihn erneut. Hatte sich sein Gewebe weiter verformt? „Nein“, schüttelt Wade den Kopf. „Der mumifizierte Körper verändert sich ziemlich schnell, innerhalb weniger Monate – danach bleibt alles, wie es ist.“
Ähnliches hat auch Frank Rühli festgestellt. Der Mediziner vom Zentrum für Evolutionäre Medizin an der Universität Zürich leitet das „Swiss Mummy Project“. Vor drei Jahren mumifizierte seine Arbeitsgruppe ein menschliches Bein – mit derselben Intention wie Nelson und Wade: „Wir wollten an frischem menschlichem Gewebe die Mumifizierung nachstellen und mit neuen Techniken untersuchen, was genau dabei passiert.“ Dem Bein erging es wie Yes: „Das Entscheidende geschieht in den ersten Wochen.“ Anfangs untersuchte Rühli das Bein täglich, schob es in den Computer- und Kernspintomografen. Als sich immer weniger und weniger veränderte, kam es seltener in die Röhre.
Doch der Segen der Technik wurde zum Fluch des Mumienbeins. „Die Kernspintomografie erhitzte das Gewebe leicht“, erklärt Rühli. „Und dadurch faulte es.“ Außerdem mussten die Forscher das Bein täglich etwa drei Stunden aus seinem Salzbett heben, um es scannen zu können. Das bekam ihm nicht gut. Und da die Geräte für lebende Menschen bestimmt sind, durfte das Bein nur in Plastik eingeschweißt ins CT – damit keine Flüssigkeit ausläuft. „Wir haben sehr viel gelernt“, resümiert Rühli, „vor allem, was wir in einer zweiten Studie noch besser machen können.“
Ein Ergebnis hat die Forscher auf jeden Fall weiter gebracht: Beim Mumifizierungsprozess zerfällt zwar die DNA, und es wird schwieriger sie zu entziffern. „Aber bis zum Schluss haben wir auch noch sehr lange Fragmente gefunden.“ Damit stieg bei Rühli die Zuversicht, in vielen alten Mumien noch genügend genetisches Material zu finden, um mehr über die Menschen zu erfahren, die für die Ewigkeit erhalten bleiben wollten.
Nelson, Wade und Rühli waren nicht die Ersten, die auf die Idee kamen, mit Mumien zu experimentieren. Im Grunde führen sie fort, was Bob Brier 1994 begonnen hatte. Durch seine Forschungen besitzt der Ägyptologe in seiner US-amerikanischen Heimat fast schon Promistatus. Seine Forschungsobjekte gehörten jedenfalls zu Lebzeiten der High Society an. Er untersuchte Tutanchamun, Ramses II., Lenin, Eva Perón alias Evita und mehrere Angehörige des Medici-Clans. Doch nicht nur das: Er war auch der Erste, der mit altägyptischen Methoden einen Menschen mumifizierte. Der unbekannte Tote hatte in seinem Testament verfügt, dass sein Körper nach dem Ableben der Wissenschaft zur Verfügung stehen sollte. Heute, fast 20 Jahre später, wird an ihm nicht mehr geforscht. Die Mumie liegt als Ausstellungsstück im San Diego Museum of Man.
Warum dann einen Versuch wiederholen, den Brier schon an einem ganzen Menschen erprobt hat? „Briers Arbeit war wegweisend“, erklärt Rühli, „aber die technischen Möglichkeiten waren damals einfach noch nicht so ausgereift wie heute. Die bildgebenden Verfahren und die molekulargenetischen Untersuchungsmethoden haben sich seitdem enorm weiterentwickelt und erlauben neue Erkenntnisse.“ Detaillierte Bilder, wie sie vom Zürcher Bein oder von Hauskater Yes existieren, waren Mitte der 1990er Jahre noch undenkbar.
Wie Briers Mumie findet nun auch Yes die Totenruhe. „Nach der letzten Reihe Scans“, lächelt Wade, „haben wir den Kater seinem früheren Besitzer zurückgegeben.“
1981 war bdw-Autorin Angelika Franz erstmals fasziniert von Mumien: Ihr Großvater hatte sie in eine Hamburger Tutanchamun-Ausstellung mitgenommen.